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Archivalie des Monats August 2019: Hans Jürgen Wildung erzählt aus seiner Schulzeit um 1820

Erinnerungen an die Schulzeit entgehen nicht immer der Gefahr, in mildes Licht zu rücken, was so nicht empfunden wurde, als es sich zutrug. Roman und Film „Die Feuerzangenbowle“ stimmen ein solches verklärendes Loblied auf die Schule an. Dass in der Wirklichkeit vielfach eher der vom Chemie-Lehrer Prof. Crey, genannt Schnauz, in seinem Buch „Die Gerechtigkeit des Lehrers unter besonderer Berücksichtigung der höheren Lehranstalten“ ausgeführte Satz: „Mit der Schule ist es wie mit der Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts!“ befolgt wurde, zeigen die Erinnerungen, die Hans Jürgen Wildung an seine Schulzeit in Fallingbostel um 1820 aufgezeichnet hat.

In jener Zeit unterstand das Schulwesen noch der Kirche. Von 1788 bis 1824 unterrichtete der Küster Friedrich Walte. Er stand 45 Jahre lang im kirchlichen Dienst und war 35 Jahre lang Lehrer in Fallingbostel, wo er am 19. September 1834 im Alter von 75 Jahren verstarb. Als Lehrer folgte ihm Wilhelm Wallbrecht, der dann 1834 auch das Amt des Küsters und Organisten übernahm. In Wallbrechts Zeit fällt 1862 die Umwandlung der bis dato einklassigen Schule in eine zweiklassige. Wilhelm Wallbrecht verstarb am 5. Juni 1867 im Alter von 62 Jahren.

 

Hans Jürgen Wildung, der am 18. Dezember 1812 in Fallingbostel geboren wurde, erlebte beide Lehrer. Er war ein „Wittenbargs Bur“, lebte also auf dem Wildung-Hof, dem gegenüber heute das Gebäude der Kreissparkasse steht. Er führte ein „Kalender und Gedenkbuch für H. J. Wildung in Wittenbergs Haus in Fallingbostel“, das mit anderen Familienunterlagen vernichtet wurde, als der Wildung-Hof beim Einmarsch der Briten am 16. April 1945 in Brand geschossen wurde. Wilhelm Westermann konnte auf die Unterlagen noch zurückgreifen, als er Material für seine dann in zwei Bänden 1949 und 1952 erschienene „Orts-Chronik von Fallingbostel“ sammelte. So wurde überliefert, wie Hans Jürgen Wildung einen Schulalltag schildert, in dem Lehrer zu drakonischen Mitteln griffen, um in den großen Klassen für Disziplin zu sorgen:

 

Der Küster Walte hatte ein ganz polteriges Gesangbuch und seine Bibel war ebenso. Ein Umschlag war um beide nicht mehr; denn er wurde bei der geringsten Gelegenheit gleich zornig, und wenn er zornig ward, dann warf er das Buch, welches er in der Hand hatte, mit aller Gewalt von sich, daß es ganz im Schulzimmer entlang rollte, gleichviel – es war beim Lesen, Beten oder beim Singen.

 

Einmal sagte er zu uns, das Lied 267 sei ein sehr schönes Lied und hätte auch eine schöne Melodie, die wolle er uns lernen. Er sang uns nun den ersten Vers dreimal vor. Zum viertenmal mußten wir mitsingen, aber es wurde nicht richtig, deshalb noch einmal zum fünften Male. Als es aber noch nicht recht wurde, da flog auf einmal das Gesangbuch im Schulzimmer entlang. Da wußten wir aber schon Bescheid, daß es was geben wollte, es gab aber auch was. Eine halbe Stunde schalt und tobte er in einem fort. Mit dem Lernen der Melodie war es aus, er hat nachher nichts wieder davon gesagt.

 

Wenn es mal ein bißchen unruhig wurde in der Schule, dann mußten wir gleich in 8 oder 10 Minuten einen Psalm lernen. Wer ihn dann nicht wußte, bekam Schläge. Dann mußten wir eine Zeitlang alle Tage ein Lied lernen. Einige – 18 – weiß ich noch davon. War ein Kind unartig, dann mußte es gleich das Lied 1150 lernen. War ein Kind krank gewesen und war wieder besser, dann mußten wir das Lied 879 lernen. Ich war in der Schule und auch im Konfirmandenunterricht der oberste der Knaben. In der Schule mußten wir alle Woche ein Lied lernen. Da lernte ich außer den aufgegebenen noch das Lied 23. Ich sagte das dem Küster Walte und dachte, er solle mir das Lied abhören und mich dann loben. Als er das aber nicht tat, lernte ich nachher nicht mehr als aufgegeben wurde.

 

In der Schule habe ich dreimal Schläge gekriegt, aber allemal unschuldig. Zuerst bekamen wir Reihenschläge am Montagmorgen, weil am Sonntagnachmittag in der Kirche nicht gut gesungen war. Als Walte morgens in die Schule kam, ging das Schlagen gleich los. Wer noch kam, mußte gleich stehen bleiben und kriegte seine Schläge, ohne zu wissen warum. Ich war noch ganz jung, vom Singen kannte ich nicht das geringste. Die großen Jungens waren alle neidisch auf mich, weil ich sehr gut lesen und auch lernen konnte und Walte mich dann lobte und die Großen beschämte. Deshalb bereiteten sie mir die beiden andern Tracht Schläge. Eines Morgens machten die großen Jungens einen furchtbaren Spektakel in der Schule, es ging alles kopfunter und kopfüber. Als sie Walte zur Schule kommen sahen, da eilte ein jeder auf seinen Platz. Er hatte aber schon den Lärm gehört. Er kam wütend in die Schule und fragte, wer den Lärm gemacht hätte. Da sagte Hans Friedrich Becker, ich hätte das getan. Ich hatte aber ganz still auf meinem Platz gestanden, was ich Walte auch sagte. Er aber sagte: „Du sollst nicht stehen, Du sollst sitzen!“ Ich kriegte Schläge und die Lärmmacher kamen gut weg. Hans Heinrich Wieters hat mir die dritte Tracht Schläge gemacht. Wenn Walte, um Frühstück zu essen, nach Hause ging, mußten ein paar große Jungens die Unruhigen an die Tür schreiben. Wenn Walte dann wiederkam, mußten die Angeschriebenen hingehen und ihren Namen auswischen, und dann gab ’s Schläge ohne weiter nachzufragen, was der Angeschriebene getan hatte. Wenn jemand sagte, er habe nichts getan, dann sagte der Küster: „Du sollst was tun!“ und schlug dann drauf los.

 

Früher war es keine Mode, daß Bauersleute sich mit einem Taschentuch trugen, um die Nase zu reinigen, nur bei vornehmen Leuten war es Mode. Es gab uns einmal der Küster selbst ein Rätsel auf: „Was werfen die Bauern weg und Kaiser und Könige stecken ’s in die Tasche?“ Antwort: den Nasenschmutz! Wer nun von den Kindern in der Schule seinen Platz hinterm Tisch hatte, der konnte nichts anders beim Nasenreinigen als untern Tisch kriechen. So ging es denn auch mir einmal. Das war eine Freude für Hans Heinrich Wieters, er mußte gerade achtgeben und schrieb mich an. So kriegte ich Schläge. Beim Küster Wallbrecht dachten die großen Jungens, mir auch einmal eine Tracht Prügel zu machen, was ihnen jedoch nicht gelang.

 

Ich mochte gerne lesen und konnte auch gut lesen. Als ich 7 Jahre alt war, da hatte ich schon die ganze Bibel durchgelesen. Ich konnte in den Büchern der Chronika, in deren Kapiteln fast alles Namen sind, dieselben ohne Fehler vorlesen. Es ging mir aber wie dem Kämmerer aus dem Mohrenland, ich verstand nichts davon. Im Evangelium Matth. las ich, daß Jesus gekreuzigt, gestorben, begraben und wieder auferstanden sei. Daß er aber gen Himmel gefahren sei, davon stand nichts da. In Mark. 15 war auch die Kreuzigung Christi beschrieben. Da fragte ich meine Mutter, ob denn Christus zweimal gekreuzigt sei. Meine Mutter machte aber großen Lärm und sagte: „Wir müssen dem Jungen die Bibel wegnehmen, er wird wirrig!“ Ich fragte nicht weiter nach, denn ich war bange, daß man mir die Bibel wegnahm. Wir hatten nur drei Bücher in der Schule und im Hause: Bibel, Gesangbuch und Katechismus. In der Schule wurde alle Tage ein Kapitel in der Bibel gelesen, war es aus, dann wurde wieder von vorn angefangen, solange bis alle Kinder gelesen hatten. Den Katechismus mußten wir ganz auswendig lernen, Fragen, Antworten, Sprüche und Liederverse.

 

Wallbrecht lehrte uns, daß es keinen Teufel gäbe. Er schalt auch über Luther, der geglaubt und gelehrt hätte, daß es einen Teufel gäbe. Er lehrte uns auch, daß es keine Wunder gäbe, sondern es habe sich alles natürlich zugetragen. Ich hatte mir ein Geschichtenbuch geliehen, in dem auch was vom Teufel stand. Da besahen in der Schule einige große Jungens das Buch und sahen, daß etwas vom Teufel drin stand. Das war Wasser auf ihrer Mühle, sie dachten, mir eine Tracht Prügel zu machen. Deshalb sagten sie es Wallbrecht und zeigten ihm die Seite, auf der etwas vom Teufel stand. Er aber sagte, wir müßten bedenken, daß es schon ein altes Buch sei. Er verbot aber, noch ferner darin zu lesen. Im Hause las ich doch darin, ich lese noch oft darin. Ich habe vor etlichen Jahren ein solches Buch geschenkt erhalten von Fräulein Mies, die lange bei uns gewohnt hat. Sie hatte es von Schulgretchen bekommen. Schulgretchens Mann, der Schulheinrich hatte es einst von Pastor Hölscher erhalten.

 

Wallbrecht glaubte nicht, daß es einen Teufel gäbe, wenn er aber zornig wurde, dann war er selbst ein Teufel. Es war früher hier Mode, wenn eine Trauung war oder Hochzeitswagen durchfuhren, dann warfen die Kranzjungfern Jahreskuchen oder Äpfel weg. Die Kinder suchten sie auf, griffen darnach und rissen sich darum. Wallbrecht verbot das. Als es eines Sonntags doch wieder geschah, da ging am andern Morgen ein unbarmherziges Schlagen los, kein Tier wird so unbarmherzig geschlagen als die unschuldigen Kinder geschlagen wurden. Zuweilen kam er morgens schon als ein Bär in die Schule. Dann ging es den ganzen Tag ans Schlagen; er fand bald Ursache.

 

Quelle: Wilhelm Westermann: Orts-Chronik von Fallingbostel. Nachdruck der in zwei Bänden erschienenen Ausgabe von 1949 und 1952 in einem Band, Fallingbostel 1987, S. 200-202.