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Datum: 28.07.2021

Archivalie des Monats August 2021: Alfred Kerrs "unerbittliche Schilderung" von Fallingbostel und Walsrode

Alfred Kerr (1867-1948) war neben seinem Kontrahenten Herbert Jhering (1888-1977) der Star-Kritiker der Weimarer Republik. Seine penibel in nummerierten kurzen Absätzen gehaltenen Besprechungen von Theateraufführungen waren gefürchtet. Aber auch die 1928 unter dem Titel „Es sei wie es wolle, Es war doch so schön!“ erschienen Reisefeuilletons über Erlebtes mit deutschen Landschaften, Menschen und Städten sind mit spitzer Feder verfasst. Das bekommen auch Fallingbostel und Walsrode zu spüren.

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Buchcover von Alfred Kerrs Sammlung von Reisefeuilletons aus dem Jahr 1928

Alfred Kerr

Fallingbostel und Walsrode

I.

Jetzt mach’ ich die Drohung wahr, das Heideland unerbitt­lich zu schildern.

Ich hab’ die wahre Heide gar nicht kennengelernt. Die nicht, von der man ein Leben lang bis dahin geträumt.

II.

Man hatte sich eine bestimmte Vorstellung gemacht:

Unendliche, nicht übersehbare Flächen, ganz dicht mit Erika bewachsen; ab und an eine Köhlerhütte; manchmal ein einsam Häuslein, wo es nach verbranntem Holz riecht, mit­unter eine kleine Schafherde, ein von der Zeit losgelöster Hirt; eine braune Frau am verlorenen Anwesen, die erstaunt auf den Besuch blickt.

Da hätte man, als ein fremdartig beguckter „Wanderer“, gesagt: „Guten Tag, ihr guten Leute...“

III.

Sie hätten dann Schafkäse, Milch (und wenn ich offen sein soll, auch etliche Spiegeleier mit Schinken) angebracht; der Abend hätte sich natürlich niedergesenkt; man wäre von der Ferne selbstverständlich umhüllt worden. Und so.

IV.

Statt dessen gab es in dem einen Heideort acht Gasthöfe, darunter ein als erstklassig bezeichneter; im andern elf Gast­höfe; zu schweigen von manchem Pangsionat.

Ich war nicht auf die rechten Heideplätze gestoßen – son­dern auf die empfohlenen. Warum undankbar sein; auch sie waren herrlich.

V.

Das Heidestädtchen Walsrode hat ein besonderes Merk­mal: daß es von Wiesen umgeben ist, aber auch nicht vom kleinsten Stück Heide. (Bleibt ein ganz lieber und erholsa­mer Aufenthalt.)

Ältliche Häuschen; Überlieferungskultur. Zum Haustor fuhren Stufen; dort oben vor der Tür links und rechts ein Sitz, mit dem Treppengeländer als Lehne.

Walt Whitman hat mal gesagt, nachdem er seine Schriften abgefaßt: „Und nun will ich mich vor die Tür setzen und mir die Leute ansehn“ – (so ähnlich). Die Walsroder haben ein verwandtes Gefühl, selbst ohne Verfassung von Schriften.

VI.

Was weiter — Herr des Himmels? Tja. Ist man ihre Straße bis zum Schluß gegangen: so kommt ein waldartiges Ge­hölz; Eckernworth. Nun wohl; schöne alte Bäume. Ein altes Gasthaus (gebälkdurchzogen, am spitzen Dach zwei höl­zerne gekreuzte Pferdeköpfe) – das Gasthaus duckt sich un­ter den alten Bäumen breit hin. Zugegeben.

Ein plattdeutscher Spruch, sehr unhöflich, steht an seiner Stirn:

O Herr, nimm uns in deine Hut.

Lat Doktors un Awkaten but.

But heißt also draußen. Awkaten heißt: Advokaten.

Ohne mich bei dieser Beleidigung aufzuhalten, sei betont, daß hier am Vorabend angenehme Friedlichkeit herrscht.

VII.

Sieh da – ein altes Heidehaus; das man allerdings aus der Heide dorthin gebracht und aufgestellt hat.

Hierin sammeln sie allerhand auf die Heide bezügliche Gegenstände, Gerätschaften, Ofen, Schränke, Wiegen, Bau­ernbetten.

(Es erinnerte mich an das Husumer Haus in der herrlichen Schleswig, welches eine Wohnstatt der Bauern dort getreu wiedergibt — wie dort alles mitsammen wohnt, Mensch und Vieh im selben Raum; und wie der Kessel über dem Herd hängt, während Stroh raschelt und ein Rind blökt. Aber...: in Schleswig-Holstein ist alles das noch weit schöner; wie es überhaupt ein mit nichts zu vergleichender Landstrich bleibt.)

VIII.

Oben in dem Heidehaus haben sie noch Erinnerungen an den letzten hannöverschen König verwahrt. Auch eine sehr schöne breite, goldfarbige „Dichtertasse“, die ein hannöver­scher Hauptmann gestiftet hat, nämlich die Tasse, woraus Heinrich Heine bei seinen Eltern in Lüneburg trank. Nicht weit ab davon hängen Uniformen aus der Schlacht bei Lan­gensalza – kurz: der Heidecharakter wird hier so recht ver­gegenwärtigt.

Bild vergrößern: Blick von der Prinz Albrechtshöhe
Blick von der Prinz Albrechtshöhe

IX.

Etwas mehr Heide liegt bei Fallingbostel. Bei Fallingbo­stel klettert man in die Höh’, ach ja, und sieht von einem Ge­hölz in den, na, Abgrund der Lieth. (Ein Flüßchen von be­scheidenem, nicht unlieblichem Charakter.)

Dann kommt man zuletzt in die Albrechtsheide. Das ist aber nur ein mickriger Fleck, mit Erika bewachsen, am Wald­rand. Ganz hübsch, hm, ja...

Unterwegs treff ich einen hannöverschen Jungen, zwölf­jährig. Der rät, nach dem „Deil“ zu wandern, drei viertel Stunden ab. Dort, sagt er, sei die Heide, wie man sie sich „vorßstellt“. (Auch er hat Enttäuschungen erlitten – eine be­stimmte Heide vorher erträumt...)

X.

Am Spätnachmittag geht also die Wanderung nach dem Deil. Erst Felder – (die kann ich in der Mark haben). Dann ein Wäldchen; hei, auf, hindurch!

Endlich die Heide? Ja, wirklich fast, wie man sie sich „vorßtellt“. Das Schönste daran: daß man auf dem Heidekraut bißchen wie auf einer Sprungfedermatratze liegt.

(Aber auch die Heide-Sprungfedern sind in Schleswig- Holstein schöner, gediegener, kräftiger, holziger. Es kommt halt nichts gegen diesen Teil Deutschlands an...)

Bild vergrößern: Heideweg in Deil bei Fallingbostel
Heideweg in Deil bei Fallingbostel

XI.

Die Sonne blickt am „Deil“ über Bäume, die Heidebienen summen, die Luft ist rein und frisch. Hier könnte man, mit einer bestimmten Arbeit im Kopfe, mal auf drei Wochen hingehn, ach ja – und sich jeden Tag dort auf den Rücken werfen.

Jetzt hat man’s erfaßt: die Heide ist schön. Nur... so schön, wie sie vorher ein Leben lang gewesen ist (ehe man sie sah) – so schön ist sie lange nicht.

XII.

Es wird auch zuviel umgegraben; Erika ausgerottet; dafür Wiesenland, Ackerland hergestellt. Hm.

Hier scheint etwas zu vergehn, was einstens jung, fremd und reizvoll war.

XIII.

In das Erinnern an diesen violetten und vergoldeten Vor­abend, der im Gedächtnis haftet, zieht ein Schimmer von Nachdenklichkeit. Die Zeit jagt. Nichts hat Bestand.

Mensch, genieße die Stunde.

(Aus: Alfred Kerr - Es sei wie es wolle, Es war doch so schön! S. Fischer Verlag Berlin 1928, S. 189-193.)