Archivalie des Monats Dezember 2020: Beschluss- und Protokollbuch der Gemeinde Dorfmark 1945
Auch wenn Corona-bedingt die meisten Veranstaltungen abgesagt werden mussten, spielte das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren eine große Rolle in den Medien. Auch die letzte Archivalie des Monats im Jahr 2020 soll einen Blick zurückwerfen auf die Ereignisse 1945. Ein kleiner Ausschnitt davon enthüllt sich, wenn man das „Beschlußbuch der Gemeinde Dorfmark" aufschlägt.
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Die von der Gemeinde Dorfmark zwischen dem 19. Juni 1936 und dem 11. Juni 1949 getroffenen Entscheidungen sind in einem „Beschlußbuch" aufgezeichnet. Die laufende Nummer 50 datiert vom 5. März 1945. Überschrieben ist sie als „Entschließung des Gemeindeleiters". Dies macht deutlich, dass das nationalsozialistische „Führerprinzip" auch in den Gemeinden angewendet wurde.
Die 1935 erlassene Deutsche Gemeindeordnung hatte in § 6 den Bürgermeister zum Leiter der Gemeinde bestimmt. Vertreten wurde er von den Beigeordneten. Sie wurden aber nicht gewählt, sondern „durch das Vertrauen von Partei und Staat in ihr Amt berufen." Ihr Wirken war jedoch eingeschränkt. Ausdrücklich sicherte sich die Partei den Einfluss auf die Gemeindeverwaltung, heißt es doch: „Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP bei bestimmten Angelegenheiten mit."
Die Gemeinderäte sind in keiner Weise mit heutigen Kommunalpolitikern zu vergleichen. Ihre Aufgabe sah die Deutsche Gemeindeordnung von 1935 darin, die stete Verbundenheit der Verwaltung mit der Bürgerschaft zu gewährleisten. Dazu sollen sie „als verdiente und erfahrene Männer dem Bürgermeister mit ihrem Rat zur Seite" stehen. § 48 ergänzte dann noch: „Die Gemeinderäte haben die Aufgabe, die dauernde Fühlung der Verwaltung der Gemeinde mit allen Schichten der Bürgerschaft zu sichern. Sie haben den Bürgermeister eigenverantwortlich zu beraten und seinen Maßnahmen in der Bevölkerung Verständnis zu verschaffen."
All das fließt in den Beginn der Aufzeichnung der 50. Entschließung des Gemeindeleiters im „Beschlußbuch" ein:
Nach Anhörung der Beigeordneten und des Gemeinderats habe ich zur Behebung des Notstandes in der Quartierbeschaffung, der infolge des Krieges eingetreten ist, beschlossen, ein Quartieramt in Dorfmark einzurichten mit der Massgabe, dass dieses Amt im Einvernehmen mit der NSV. Die dem Ort zugewiesenen Flüchtlinge aller Art in die vorgesehenen Quartiere einweist.
Die Formulierung macht deutlich, welch untergeordnete Rolle der Gemeinderat hatte, dass die Entscheidung letztlich der Bürgermeister allein traf, er aber stets die nationalsozialistischen Organisationen einbinden musste.
Angesichts des immer schnelleren Vorrückens der Alliierten war die Zahl der Personen, die insbesondere aus den östlichen Gebieten flohen, sprunghaft angestiegen. Die Formulierung „Flüchtlinge aller Art" deutet aber daraufhin, dass es auch noch andere Gruppen gab. Menschen aus Großstädten, die von verheerenden Bombardements getroffen waren, mussten sich eine neue (Behelfs-)Unterkunft suchen – und es gab auch Holländer, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten und sich gegen Kriegsende in Deutschland in Sicherheit zu bringen versuchten.
Die NSV, die Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, war Trägerin der Wohlfahrtspolitik im NS-Regime. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit standen Gesundheitsfürsorge, Vorsorgeuntersuchungen sowie die medizinische Betreuung, die während des Zweiten Weltkrieges vor allem von Bombenopfern in Anspruch genommen werden musste. Zwar gelang es den Nationalsozialisten nicht, nach dem von ihnen verfügten Verbot der Arbeiterwohlfahrt in der NSV die gesamte freie Wohlfahrtspflege zu monopolisieren, doch wurden führende Verbände wie das DRK oder die Caritas entscheidend zurückgedrängt.
Diese Verbände konnten dann erst wieder in der Nachkriegszeit eine überaus wichtige Rolle bei der Linderung der großen Not übernehmen. Denn der Flüchtlingsstrom riss nicht ab. Welche Folgen dies für die Ortschaft Dorfmark hatte, lässt sich aus der Entschließung Nr. 55 vom 20. Dezember 1945 folgern. Sie lautet:
Beschluss über die Errichtung weiterer vier Schulstellen in der Gemeinde Dorfmark
Durch die Aufnahme der vielen Flüchtlingsfamilien in Dorfmark hat sich die Zahl der schulpflichtigen Kinder auf 570 erhöht. An schulpflichtigen Flüchtlingskindern sind jetzt in der Gemeinde Dorfmark 245 vorhanden.
Aus diesem Grunde ist es nötig, das wenigstens noch 4 weitere Schulstellen eingerichtet werden, was hiermit geschieht. Es sind nunmehr in Dorfmark 4 Schulstellen vorhanden.
Die Zahl der Schulkinder – und damit zusammenhängend auch die Zahl der Einwohner insgesamt – hatte sich durch die Kriegsereignisse also fast verdoppelt. Eindringlich werden die dadurch entstandenen Herausforderungen in der 1994 erschienenen „Ortschronik Dorfmark" skizziert:
Zu den schwersten Aufgaben, die die Gemeindeverwaltung von Dorfmark nach dem Kriegsende zu bewältigen hatte, gehörte die Unterbringung der vielen Vertriebenen, die nach dem Verlust ihrer Heimat in Dorfmark Zuflucht suchten. Wenn die Flüchtlinge – so wurden sie damals allgemein genannt – in einem halbwegs geordneten Bahntransport in Dorfmark eintrafen, wurden sie am Bahnhof in Empfang genommen, danach im Kinosaal vom Gasthof zur Post provisorisch untergebracht, bis sie in die einzelnen Wohnungen – man muß wohl besser sagen, Zimmer – eingewiesen wurden. Es gab damals eine strikte Wohnraumbewirtschaftung, und in der Gemeinde gab es einen Sachbearbeiter für die Einweisung von Flüchtlingen. Dieser war um sein Amt nicht zu beneiden.
Die Wohnverhältnisse für die meisten Flüchtlinge waren äußerst primitiv. Aus vielen Fenstern ragten gebogene Ofenrohre empor, weil man in dem Zimmer einen eisernen Ofen aufstellen mußte, der an keinen Schornstein anzuschließen war. Die Flüchtlinge und auch die Einheimischen – diese Zweiteilung war damals unübersehbar – wohnten sehr beengt. Auf dem Bahnhofsgelände wohnte eine Familie mit sechs Personen in zwei Räumen in einem kleinen, zum Bahnhof gehörenden Gebäude.
Viele Flüchtlinge fanden ihre Unterkunft in der sogenannten Schweinskaserne. In dem langen Gang, der durch diese ehemalige Schweinemästerei führte, hingen ein paar nackte Glühbirnen. Wenn man dann in die einzelnen kleinen Wohnungen eintrat, war man erstaunt, mit welchen einfachen Mitteln sich hier viele Familien eine halbwegs menschenwürdige Unterkunft geschaffen hatten.
Auch im ehemaligen Maidenlager an der Becklinger Straße waren viele Flüchtlinge untergebracht. Es war häufig so, daß ein paar Dinge, die sie aus der alten Heimat gerettet hatten, bewußt in den Mittelpunkt der Wohnungseinrichtung gestellt wurden.
Die Gemeinde konnte sich bis zur Währungsreform nur darauf beschränken, eiserne Öfen, Bettgestelle und einige wenige einfache Artikel für den täglichen Bedarf zu beschaffen. An eine großangelegte Bautätigkeit war damals nicht zu denken.
Auf den ersten Blick lässt sich bei den Eintragungen in das „Beschlußbuch" nicht erkennen, dass seit Mitte April 1945 die Gemeinden unserer Region der britischen Militärregierung unterstanden. Noch die Entschließung Nr. 53 wurde von Bürgermeister Karl Reimann unterschrieben. Er war also auch nach der Befreiung Dorfmarks zunächst im Amt gelassen worden. Die Entschließung Nr. 55 unterzeichnete dann aber am 20. Dezember 1945 der von den Briten als neuer Bürgermeister eingesetzte Georg Bösling. Ein offizieller Gemeinderat stand ihm noch nicht zur Seite – zunächst wurde auf Verlangen des britischen Kreiskommandanten nur ab August auf Gemeindeebene ein so genannter beratender Ausschuss gebildet. Am 1. April 1946 wurde dann die Gemeindeordnung durch die Verordnung 21 der britischen Militärregierung geändert bzw. neu gefasst. Damit wurde ein wichtiger Schritt hin zur Demokratisierung und Selbstverwaltung getan.