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Archivalie des Monats Juni 2017: Vor 70 Jahren begann Pastor Vetter, Bücher für die „Notgemeinschaftsbücherei" Dorfmark zu sammeln

Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale, sondern auch Büchereien. Und die können manchmal höchst interessant sein. So dürften sich nur noch wenige ältere Dorfmarker daran erinnern, dass die Geburtsstunde der heutigen Bücherei vor siebzig Jahren schlug, als Pfarrer Vetter den Aufbau einer „Notgemeinschaftsbücherei" in Angriff nahm.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges hatte zu einem starken Zuzug von Evakuierten aus den von den Bombardierungen zerstörten norddeutschen Großstädten, von vor der Roten Armee flüchtenden Menschen und später dann von Vertriebenen aus den früheren deutschen Ostgebieten geführt. Der Kreis Fallingbostel wurde zu einer „Flüchtlingshochburg". Nicht nur die Einwohnerzahlen der Ortschaften verdoppelten sich gegenüber der unmittelbaren Vorkriegszeit, auch die Kirchengemeinden wuchsen erheblich. So zählte die Gemeinde Dorfmark nach dem Krieg über 6.000 Gemeindemitglieder! Zur Unterstützung des seit 1937/38 in Dorfmark tätigen Pastor Rotermund wurden zuweilen auch Hilfsgeistliche eingesetzt. Längere Zeit war der 1913 in Grune-Lissa (Posen) geborene Pfarrer Vetter in Dorfmark tätig, der sich neben seinen geistlichen Aufgaben auch um die Vertriebenen kümmerte und aktiv wurde, um eine „Notgemeinschaftsbücherei" aufzubauen.

In der Doppelnummer 25/26 der in dem in der französischen Besatzungszone gelegenen Neuwied erscheinenden evangelischen Wochenschrift „Sonntagsbote" fragte Pfarrer Vetter am 21. September 1947:

„Wer hilft mit, ein gutes Werk zu tun?
Klein ist die Erfüllung meiner Bitte für jeden der helfen will und kann; groß ist das Werk, wenn es vollendet werden kann! Ich möchte den 3000 Kriegsvertriebenen meines Bezirkes, die alles entbehren und an allem Mangel leiden, eine Leihbibliothek schaffen, die dem einzelnen unserer Brüder und Schwestern in der räumlichen Enge und wohnlichen Unbequemlichkeit während der Wintermonate durch ein gutes Buch über manche gramerfüllte Stunde hinweghilft. Ein Schwerversehrter dieses Krieges, der in seinem Berufe nicht mehr tätig sein kann, soll dadurch wieder eine Lebensaufgabe finden. Wenn jeder der Leser, der durch Gottes Gnade, nicht durch eignes Verdienst seine Bücherschätze erhalten durfte, auch nur e i n gutes Buch kostenlos abgibt, so steht das Werk als ein Zeichen der Liebe, die auf Erden so rar geworden ist. Hier ist keiner zu klein, Helfer zu sein im Namen dessen, der am Kreuz verblieb!
Unter sein Wort will ich dieses Werk stellen:
‚Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern das habt ihr mir getan!‘
Meinen Schutzbefohlenen aber will ich es später als ein Gruß der Helfer zurufen: So seid ihr denn nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen! Jedem, der geholfen hat, will ich abschließend berichten, wie das Werk gediehen ist.
Ich bitte die Bücher zu senden an:
Pfarrer VETTER, (20a) Dorfmark 160 in Hannover."

In gekürzter Form wurde diese Suchanzeige wenig später dann auch in der Doppelnummer 19/20 des „Nachrichtendienstes der ‚Pressestelle der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz‘" am 10. Oktober 1947 veröffentlicht. Doch trotz dieser intensiven Öffentlichkeitsarbeit stellte sich der erwünschte Erfolg nicht ein. Denn in der Doppelnummer 31/32 des „Sonntagsboten" konnte Pfarrer Vetter am 2. November 1947 nur berichten, von 12 Lesern 28 Bücher geschenkt bekommen zu haben. Auch wenn er fragen musste: „Darf ich noch hoffen?", entmutigen ließ er sich von dieser enttäuschenden Resonanz nicht. Zuversichtlich erneuerte er seine Bitte um Buchspenden, glaubte er doch nach wie vor an das Gelingen seines Planes:

„Ich kenne die Trägheit des Herzens und des Gedächtnisses, und darum wage ich noch einmal dieselbe Bitte. Ich glaube an eine Notgemeinschaft in christlicher Verantwortung, weil ich selbst unter diesem Gesetze stehe und arbeite. Ich glaube an das Gelingen meines kleinen Hilfswerkes, darum bitte ich noch einmal, liebe Brüdern und Schwestern! Jedes Buch ist mir recht, vom Märchenbuch bis zum wissenschaftlichen Werk. Meine Bitte aber stelle ich unter ein Wort christlicher Liebesgesinnung:
‚Wehe dem Krug, der in Scherben geht, und keinen Durstgen getränkt!
Wehe dem Menschen, der sterben geht, und keine Liebe geschenkt!‘
Ich bitte die Bücher zu senden an
Pfarrer VETTER, (20a) Dorfmark 160 in Hannover."

Pfarrer Vetter zitierte in leicht abgewandelter Form das 23. der „Bruchstücke", die Friedrich Rückert in „Aglaja. Ein Taschenbuch für das Jahr 1825" veröffentlicht hatte. Dort lautet der Spruch:
„Wehe dem, der zu sterben geht,
Und Keinem Liebe geschenkt hat,
Dem Becher, der zu Scherben geht,
Und keinen Durst’gen getränkt hat."

Die Geduld von Pfarrer Vetter wurde belohnt, denn am 20. März 1948 konnte – nach einstimmigem Beschluss des Gemeinderats vom gleichen Tage – ein „Vertragliches Übereinkommen über die Errichtung einer Bücherei zwischen Herrn Pfarrer Gustav Vetter – Dorfmark und der politischen Gemeinde Dorfmark Kreis Fallingbostel" geschlossen werden. Darin wurde erläutert: „Ende des Jahres 1947 fasste Herr Pastor Vetter den Entschluss, eine Bücherei zu beschaffen, die den Kriegsvertriebenen der Gemeinde Dorfmark und darüber hinaus allen Gemeindemitgliedern zur Benutzung freigegeben werden sollte. In einer evangelischen Wochenzeitschrift, dem „Sonntagsboten", welche in Neuwied, in der französischen Zone erscheint, liess Herr Pastor Vetter einen kurzen Aufruf zu einer Bücherspende erscheinen. Dieser Aufruf hatte den Erfolg, dass Herr Pastor Vetter in den darauf folgenden Monaten bis zur Stunde ca 800 gute Bücher gespendet wurden."

Pastor Vetter wandte sich an die Gemeinde, da er Interesse daran hatte, „[…] dass diese wohltätige Einrichtung auch nach seinem evtl. Weggange aus Dorfmark zum allgemeinen Nutzen besteht, wächst und gedeiht. Herr Pastor Vetter ist gewillt, dieses treuhänderische Eigentum der politischen Gemeinde Dorfmark zu übertragen, wenn gewisse Voraussetzungen, die für einen gedeihlichen Fortbestand unerlässlich sind, von den berufenen Vertretern der Gemeinde geschaffen und anerkannt werden."

Der Vertrag sah vor, dass der Gemeinde außer der Zurverfügungstellung der Räume – es handelte sich um eine Wohnung, die der Gemeinde vorher monatlich 20,- Mark Miete einbrachte – und ihrer würdigen Herrichtung keinerlei finanzielle Belastung erwachsen sollte. Die Bücherei sollte keinem gewerblichen Zweck dienen, sondern sich selbst erhalten und ihren Fortbestand dadurch gewährleisten, dass 50-75 % der freiwilligen Spende für die Entleihung eines jeden Buchs dem Bücherwart als „Aufwandentschädigung und Anreiz für seine Arbeit" zugedacht werden sollten, während 25-50 % für Auf- und Ausbau sowie Erhaltung der Bücherei vorgesehen waren. § 8 bestimmte: „Der Bücherwart muss dem Sinn des Werkes gemäss eine geeignete Person aus den Reihen der Kriegsvertriebenen sein, welche der Unterstützung bedürftig ist und schwerste Einbusse an Gut und Leben durch den Krieg erlitten hat."

Vertrag mit der Gemeinde Dorfmark vom 20. März 1948



Unter dem Datum des 22. April 1948 erfolgte eine von Pfarrer Vetter unterzeichnete Bekanntmachung an alle Bewohner Dorfmarks, die Einzelheiten der Büchereinutzung regelte. Dabei wurde auf Freiwilligkeit gesetzt: Nicht nur wurde eine freiwillige Geldspende bei der Aufnahme in die Bücherei erwartet, sondern Pfarrer Vetter wies in jener Zeit, in der alle Rohstoffe Mangelware waren, darauf hin, dass er für 76 Pfunde Altpapier habe bürgen müssen, um Einschlagpapier und sonstiges Material zu erhalten. Deshalb appellierte er an die Leserinnen und Leser, bei der Aufnahme nach Möglichkeit eine „grösst mögliche Menge von Altpapier" zu spenden.

Bekanntmachung vom 22. April 1948



Am Tag nach dieser Bekanntmachung eröffnete Bürgermeister Thomas die, wie er sie nannte, „Pastor-Vetter-Bücherei". Als Bücherwart wurde die aus Schlesien kriegsvertriebene Margarete Rutz, eine Mutter von drei Kindern, deren Mann seit Stalingrad vermisst wurde, berufen. Neben ihr war als zweite Aufsichtsperson Lehrer Friedrich Vajen tätig.

Im „Vorwort des Begründers" zu den Satzungen der Bücherei machte Pfarrer Vetter noch einmal sehr deutlich, was ihn zu seinem Vorhaben bewegt hatte und welchen Zweck er damit verfolgte: „In dunkler Notzeit unsres deutschen Vaterlandes ist diese Bücherei entstanden im Zeichen einer schicksalhaften Opfergemeinschaft. Deutsche Menschen aller Stände und aller Gaue unsres unglücklichen Deutschlands haben zusammengestanden, Ihnen diese Bücher in freiwilliger Spende zu treuen Händen zu übergeben. Was kann mehr verpflichten als das beispielhafte Opfer in gemeinsamer Not? Diese Bücherei enthält Bände, die das ganze neuerworbene Büchergut kriegsvertriebner Menschen waren, die alles verloren hatten. In vielen Begleitbriefen war der Satz zu lesen: ‚Armut gibt der Armut gern‘."

Bei der Eröffnung gab Bürgermeister Thomas der Einrichtung zwar den Namen „Pastor-Vetter-Bücherei", doch in den Schriftstücken der Verwaltung wird losgelöst von der Person des Gründers von der „Notgemeinschaftsbücherei" gesprochen. Pfarrer Vetter verlagerte mit dem Tag der Eröffnung der Bücherei seine öffentlichen Sprechstunden als Leiter des Flüchtlingsamtes Dorfmark aus seiner Wohnung in deren Räumlichkeiten. Auch die „gelegentliche Benutzung" durch die „Freien Wohlfahrtsverbände" sollte möglich sein.

In der Doppelnummer 19/20 des „Sonntagsboten" vom 20. Juni 1948 dankte Pfarrer Vetter für alle Opferbereitschaft auf dem Grunde christlicher Liebe. Er berichtete: „Gebietsmäßig stehen Oberbayern und das Rheinland an der Spitze der Spender. Jeder Leserkreis ist gut bedacht worden. Nur eine Interessentengruppe schnitt schlecht dabei ab, nämlich die der Jungens von 12-15 Jahren. Dürfte ich an dieser Stelle alle Spender oder Spendenwilligen noch einmal bitten, für diese Jungen in ihrem Bücherschranke Inventur zu machen? Dann wäre mein Werk lückenlos, dank Ihrer aller gütiger Mithilfe und Opferbereitschaft!"

Da Pfarrer Vetter am 4. März 1949 nach Homberg-Hochheide an den Niederrhein verzog, konnte er sein Werk nicht mehr weiter tatkräftig begleiten. Mag der Bestandsaufbau auch Lücken aufgewiesen haben, wichtig war, dass der Startschuss gegeben war, dauerhaft in Dorfmark eine Bücherei vorzuhalten.