Achivalie des Monats Mai 2023: Vor 175 Jahren gehörten die Fallingbosteler Friedrich Schmidt und Quintus-Icilius der Frankfurter Nationalversammlung an
Am 18. Mai 1848 versammelten sich in der Frankfurter Paulskirche die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Parlaments, um über eine freiheitliche Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaats zu beraten. Zu den 587 Parlamentariern gehörte auch Friedrich Schmidt aus Fallingbostel. Nach Schmidts Rücktritt folgte ihm ab dem 11. September 1848 sein Freund Heinrich Guichard von Quintus-Icilius.
Um Kenntnis über das politische Wirken der beiden Fallingbosteler zu gewinnen, lässt sich im Internet mittels Eingabe der Suchbegriffe „Parlamentarierportal FNV“ Zugang zu einer Datenbank finden, in der Kurzbiografien aller Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung zusammengetragen wurden (für diese Archivalie des Monats aufgerufen am 29.04.2023).
Aus dem Eintrag über den als Sohn eines Gastwirts am 27. Oktober 1804 in Fallingbostel geborenen Cord Friedrich Schmidt geht hervor, dass er evangelisch war, unverheiratet blieb, Gutsbesitzer in seinem Geburtsort wurde und seit 1838 mit Quintus-Icilius Gründer und Ausschussmitglied der „Sparcasse der Amtsvogtei Fallingbostel Soltau“ war, einer der ersten ländlichen Sparkassen im Königreich Hannover. Schmidt starb am 24. November 1869 in seinem Geburtsort.
Friedrich Schmidt hatte bereits als Deputierter der Lüneburgischen Grundbesitzer der zweiten Kammer der vom hannoverschen König am 7. Januar 1838 einberufenen allgemeinen Ständeversammlung angehört, bevor er als Vertreter des 15. hannoverschen Wahlkreises (Fallingbostel) in die Frankfurter Nationalversammlung entsandt wurde.
Für diese Wahlen war das Königreich Hannover in 26 Kreise eingeteilt worden, so dass auf jeweils 50.000 Einwohner ein Abgeordneter kam. Zunächst wurden Wahlmänner gewählt, die dann die Abgeordneten in den Wahlkreisen bestimmten. Das aktive Wahlrecht stand allen volljährigen, selbständigen Staatsangehörigen zu. Im Königreich Hannover wurde der Begriff der Selbständigkeit so ausgelegt, dass Einwohner, die bei einem anderen in Kost und Lohn standen, nicht wahlberechtigt sein sollten.
Am 18. Mai 1848 zog Friedrich Schmidt mit den anderen in den Staaten des Deutschen Bundes gewählten Abgeordneten in die Frankfurter Paulskirche, den Tagungsort der Nationalversammlung, ein. Die Abgeordneten hatten die doppelte Aufgabe zu bewältigen, die vielen existierenden Einzelstaaten zu einem deutschen Nationalstaat zu einen und ihm eine Verfassung zu geben.
In der Nationalversammlung wurden fünfzehn sogenannte Abteilungen gebildet, in denen die Vorberatungen der Verhandlungsgegenstände erfolgten. Als die Abgeordneten in der zweiten Sitzung am 19. Mai 1848 per Los einer Abteilung zugeordnet wurden, kam Schmidt in die dreizehnte Abteilung, die einen Saal mit Nebenzimmer bei Dr. med. Kloß in der Paulsgasse Nr. 5 nutzen sollte. Einer der sich dann bald bildenden Fraktionen schloss sich Schmidt nicht an, er stimmte aber mit den Liberalen des rechten Zentrums, die sich im „Casino“, der größten Fraktion in der Paulskirche, zusammengeschlossen hatten. In dieser Fraktion waren vor allem Liberale aus dem Südwesten, dem rheinischen Bürgertum und der norddeutschen Professorenschaft vertreten.
Die Mitglieder der Casino-Fraktion setzten sich für eine starke Zentralgewalt ein. Die Volksvertretung sollte auf die gesetzgebende Funktion beschränkt sein. Die zu verabschiedende Verfassung sollte im Rahmen einer bundesstaatlichen Ordnung auch die Besonderheiten der Einzelstaaten berücksichtigen. An der Spitze des Nationalstaates sollte ein Kaiser stehen, dessen Amt und Titel vererbbar sein sollten.
Nach zwei Monaten reichte Schmidt aber bereits ein Urlaubsgesuch ein, dem in der 43. Sitzung am 20. Juli 1848 stattgegeben wurde. Die beantragten und bewilligten vier Wochen Urlaub scheinen aber ein Umschwenken Schmidts herbeigeführt zu haben. Denn er kehrte nicht in die Nationalversammlung zurück. Im stenographischen Bericht der 61. Sitzung am 17. August 1848 wird festgehalten: „Herr Schmidt aus Fallingbostel sieht sich seiner Gesundheit wegen veranlaßt, auf seinen Deputirtensitz zu resigniren [hier noch in seiner alten Bedeutung von zurückgeben, verzichten gebraucht und nicht im heutigen Sinne von „sich mit seinem Schicksal abfinden"; W. B.], und diese Resignation anzuzeigen; wir werden davon ebenfalls dem Reichsministerium des Innern Nachricht zu geben haben, um eine neue Wahl zu veranlassen."
Aus dieser Nachwahl ging Schmidts Freund Heinrich Guichard von Quintus-Icilius als Sieger hervor. Sein Mandat in der Frankfurter Nationalversammlung trat er am 11. September 1848 an. Er schloss sich der Fraktion Landsberg an. Sie war Anfang September von aus der Casino-Fraktion ausgeschiedenen Mitgliedern, die dem Parlament mehr Rechte zubilligen wollten, zusammen mit Abgeordneten des „Württemberger Hofs“ gebildet worden.
Heinrich Quichard von Quintus-Icilius wurde am 6. Mai 1798 als Sohn eines Leutnants in Berlin geboren. Von 1815 bis 1820 studierte er in seiner Geburtsstadt evangelische Theologie, besuchte die philosophische Fakultät und wandte sich schließlich der Rechtswissenschaft zu. Von 1822 bis 1823 war er Auditor am Untergericht in Ahlden, von 1823 bis 1830 supplierender Amtsassessor am Untergericht, zunächst in Ahlden, seit 1829 in Hannover, danach dann von 1830 bis 1838 Assessor am Stadtgericht und Elbzollgericht in Schnackenburg. 1838 kam er als Amtsassessor nach Fallingbostel, wurde hier 1845 Amtmann und 1854 Oberamtmann. Quintus-Icilius war evangelisch und verheiratet.
In den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung, die stenographisch protokolliert wurden, meldete er sich nicht zu Wort. Bekannt ist lediglich, dass er zu jenen Abgeordneten gehörte, die nach der Verabschiedung einer Verfassung den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser der Deutschen wählten. Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm angetragene Kaiserkrone jedoch am 3. April 1849 ab, da ihr in seinen Augen der „Ludergeruch der Revolution“ anhaftete. Viele Abgeordnete sahen dadurch die Anliegen der Nationalversammlung als gescheitert an.
Wenn auch kaum etwas über das konkrete Wirken der beiden Abgeordneten aus Fallingbostel in der Nationalversammlung bekannt ist, wissen wir doch etwas mehr darüber, wie in dem kleinen Heideort die revolutionären Zeiten verliefen, in denen der Oberamtmann Heinrich Quichard von Quintus-Icilius und sein Freund, der Gutsbesitzer Friedrich Schmidt in vorderster Reihe standen. Die lokalen Ereignisse des Jahres 1849 hat der in Fallingbostel geborene Schriftsteller Friedrich Freudenthal in seinem Buch „Meine Kindheit“ geschildert. Er berichtete: „In Fallingbostel machte sich die Volksbewegung vom Jahre 1848 selbstverständlich auch bemerkbar. Der Oberamtmann [...], ein ihm befreundeter Gutsbesitzer, ein Rechtsanwalt, ein junger Assessor und einige andere angesehene Leute im Orte bildeten eine Vereinigung, die häufig sogenannte Volksfeste veranstaltete, wozu die Dorfbewohner und Bauern aus der Umgegend, von denen man wußte, daß sie der freiheitlichen Bewegung nicht abgeneigt waren, eingeladen wurden. Diese Feste sollten dazu dienen, sich mit dem 'gemeinen' Manne anzufreunden und auf ihn Einfluß zu gewinnen. [...]
Man versammelte sich an Sonntagen bei gutem Wetter in einem schönen Gehölz unter Buchen und Eichen. Der Festplatz lag dem Dorfe gegenüber am jenseitigen Ufer des Flusses. Das Gelände stieg hier wohl hundert Fuß schroff aufwärts und war weithin mit einem uralten Laub- und Nadelholzwald bedeckt [...]. Diese Volksfeste im Walde, zu denen auch berühmte Führer von auswärts verschrieben wurden, begannen in der Regel mit langen begeisterungsvollen Ansprachen und Reden über Freiheit und Gleichheit und darüber, wie alles im Lande sich besser und gerechter einrichten lasse. Den König und dessen Regierung ließ man dabei meistens klugerweise aus dem Spiel, denn man wußte nur zu gut, daß die Bauern und Bürger der dortigen Gegend in ihrer großen Mehrzahl noch gut vaterländisch und königstreu waren. Auf die Reden folgten Gesang und Tanz. Selbstverständlich wurde bei diesen festlichen Veranstaltungen nach alter Weise auch viel getrunken.“
Selbst ein Bericht, den Quintus-Icilius im März 1848 dem Innenministerium in Hannover erstattete, mochte dem insgesamt beschaulich anmutenden Bild der „Revolution“ in der Heide nur wenige neue Facetten hinzufügen. Der Oberamtmann setzte seine übergeordnete Behörde davon in Kenntnis, dass am Vortag von Soltau aus eine über 20 Personen zählende Deputation durch Fallingbostel weiter nach Walsrode gezogen sei – „unter Entfaltung der schwarz-rot-goldenen Zeichen“. Zweck einer in Soltau abgehaltenen Versammlung war es eigentlich gewesen, Bevollmächtigte, sogenannte Condeputierte, zur Ständeversammlung nach Hannover zu schicken, um insbesondere auf die schlechte Lage des Handwerks und der Gewerbetreibenden hinzuweisen. Doch Soltaus Bürgermeister Eduard Weinlig hatte vermocht, „die Absendung einer Deputation der Gilden“ in die Hauptstadt des Königreichs zu verhindern. So begleiteten schließlich nur 20 Soltauer die drei Celler Deputierten, die an der Versammlung teilgenommen hatten, lediglich nach Walsrode – und nicht nach Hannover!
Sehr „revolutionär“ war die Stimmung vor Ort also nicht, als zunächst Schmidt und dann Quintus-Icilius in der Nationalversammlung wirkten. Das dürfte durchaus im Sinne des hannoverschen Königs Ernst August gewesen sein. Der König selbst und die von ihm im März 1848 eingesetzte Regierung Bennigsen-Stüve vertraten gegenüber der Entwicklung in der Frankfurter Paulskirche eine strikt ablehnende Haltung. Hannover strebte danach, die Existenzrechte der Einzelstaaten zu verteidigen, die es durch eine starke Zentralgewalt, wie sie das Paulskirchen-Parlament schaffen wollte, genauso gefährdet sah wie durch eine Stärkung der Position einer der beiden Großmächte Preußen oder Österreich innerhalb des Gefüges des Deutschen Bundes. Die von der Nationalversammlung beschlossenen Grundrechte sah es als verderblich an, weil nach Ansicht Hannovers die Nationalversammlung für so weitgehend in die Rechte der Einzelstaaten eingreifende Maßnahmen kein Mandat hatte.
Diese ablehnende Haltung des Königs und seiner Regierung fand allerdings nicht in allen Kreisen der Bevölkerung Unterstützung. Es regte sich auch in der Ständeversammlung Widerstand, woraufhin die Zweite Kammer Ende April aufgelöst wurde. Durch Weisung vom 23. Mai 1849 erfolgte dann die Abberufung der hannoverschen Abgeordneten aus der Paulskirche, nachdem auch die preußische, die österreichische und die sächsische Regierung die aus ihren Ländern stammenden Parlamentarier zurückbeordert hatten. Der Idee der Nationalversammlung wurde damit der Todesstoß versetzt. Resignation bemächtigte sich all jener Kräfte, die für eine Veränderung eingetreten waren und nun miterleben mussten, wie ihre Ideale unverwirklicht blieben und stattdessen das alte System sich erneut zu festigen vermochte.
Friedrich Freudenthal hat in seinen Kindheitserinnerungen eindringlich geschildert, wie sehr Quintus-Icilius, der am 30. Mai 1849 sein Mandat in der Nationalversammlung aufgab, von dieser Entwicklung enttäuscht war: „In Hannover war der Revolutionsrausch verflogen. Der Oberamtmann, der eine Zeitlang als Abgeordneter in Frankfurt a. M. geweilt und dort in der Paulskirche die langen, überschwenglichen Weltverbesserungsreden mit angehört hatte, war eines Abend spät [...] zurückgekehrt. Unter lauten Jubel und bei einem guten Trunk hatte er sich seinerzeit von seinen Freunden verabschiedet, und nun kam er im Dunkeln auf einem Bauerngefährt, das er in einem nahen Städtchen getroffen hatte, verzagt heim nach seinem Wohnorte und Amtssitze, fast wie jemand, der das Tageslicht zu scheuen hatte.“
Wenige Tage später betrat Quintus-Icilius das Wohnhaus von Friedrich Freudenthals Vater, das direkt gegenüber dem zweistöckigen Haus lag, in dem der Oberamtmann wohnte. „Mein lieber Nachbar“, soll Quintus-Icilius gesagt haben, „ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen darf. Stellen Sie doch, bitte, diese Kiste auf ihren Boden an einen verborgenen Ort. Es sind Bücher und Schriften darin, die ich nicht mehr im Hause haben darf. Es weht jetzt ein anderer Wind im Lande...“
Doch die Enttäuschung über das Scheitern der Revolution schlug nicht in Resignation in der Arbeit für sein Amt um. Quintus-Icilius setzte sich bis zu seinem Tod am 19. Mai 1861 in Fallingbostel weiterhin mit großem Elan für die Belange der Amtseingesessenen ein. Auf dem alten Friedhof, der heutigen Grünanlage „Osterberg“, wurde er in einem Mausoleum beigesetzt, neben dem später dann ein weiteres für seinen Freund Friedrich Schmidt, der ihn bei der Gründung der Sparkasse tatkräftig unterstützt hatte, errichtet wurde. Auf dem Kirchberg der St. Dionysius-Kirche wurde 1864 ein Denkmal für den weithin geachteten Oberamtmann eingeweiht. Gewidmet wurde es, wie es auf der dem Denkmal zugehörigen Schrifttafel heißt, „dem Andenken des deutschen Mannes voll thatkräftiger aufopfernder Liebe für die Menschheit, für sein Vaterland und für sein Amt in tiefer Verehrung und Dankbarkeit [..] von den Eingesessenen des Amts Fallingbostel und der Landgemeinden des Kirchspiels Soltau“.
In der Frankfurter Nationalversammlung saß neben Schmidt und Quintus-Icilius noch eine dritte Person, die lange Zeit in Fallingbostel gewirkt hatte: der am 21. Juni 1811 in Goslar geborene August Grumbrecht. Er war nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Marburg 1835 als Notar nach Fallingbostel gekommen. 1847 wurde er Notar in Lüneburg, wo er in den politischen Auseinandersetzungen des Jahres 1848 eine bedeutsame Rolle spielte. Der Nationalversammlung, in der er sich der Fraktion „Württemberger Hof“ anschloss, gehörte er vom 18. Mai 1848 bis zum 30. Mai 1849 an. Er kehrte nach Lüneburg zurück, betätigte sich dort auch als Redakteur, und wurde dann 1855 Bürgermeister in Harburg. Von 1857 bis zu seinem Tod am 10. Januar 1883 war er dort Oberbürgermeister. Im Gegensatz zu Schmidt und Quintus-Icilius betätigte er sich weiterhin politisch. Als Nationalliberaler gehörte er dem Preußischen Abgeordnetenhaus und dem Reichstag an.
Mit Schmidt und Quintus-Icilius zählte Grumbrecht im März 1839 zu den 28 örtlichen Honoratioren, die den Lieth-Club gründeten. Für den kleinen Ort mit damals gut 650 Einwohnern ist es eine erstaunliche Tatsache, dass drei Gründungsmitglieder dieses Clubs, also fast 10 % Prozent seiner Mitglieder, der Nationalversammlung angehörten. Gleiches dürfte wohl kaum einer anderen Vereinigung vergönnt gewesen oder in einem anderen Ort von der Größe Fallingbostels vorgekommen sein!