Archivalie des Monats März 2024: Die Gebietsreform des Jahres 1974 - Zwangsehe oder Vernunftheirat?
Wohl kaum ein Ereignis der Nachkriegsgeschichte wurde derart kontrovers diskutiert, wie die vom Land Niedersachsen durchgeführte Gebietsreform des Jahres 1974. Sie führte dazu, dass zum 1. März dieses Jahres die vormals selbständigen Ortschaften Dorfmark, Vierde, Mengebostel, Riepe und Jettebruch nach Fallingbostel eingemeindet wurden – wogegen sich in erheblichem Maße Widerstand geregt hatte.
In der Entrüstung über die vom Land geplante Eingemeindung von Ortschaften geriet vor 50 Jahren in Vergessenheit, dass auch zuvor schon Gemeinden – je nachdem, wie man es sehen wollte – in eine Zwangsehe oder Vernunftheirat hineingedrängt wurden. Denn die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren für den Staat und die Kommunen alles andere als golden. Wirtschaftliche Probleme, geringes Steueraufkommen und hohe Arbeitslosigkeit engten ihren Handlungsspielraum erheblich ein. Der Staat sah sich in dieser Situation gezwungen, alles zu tun, um die Ausgaben für den Verwaltungsapparat zu senken und seine Effektivität zu steigern. Ein Schritt auf diesem Weg war die in den Jahren 1927/28 durchgeführte Verschmelzung von kleineren Landgemeinden zu größeren Gemeindeeinheiten.
Während der Verlust der Selbständigkeit in einigen Dörfern auf Widerspruch stieß, erkannten andere Orte die Notwendigkeit der Reform an. Dorfmark und Fischendorf befürworteten die Zusammenlegung, die der Tatsache Rechnung trug, dass es durch den Bau des Bahnhofs und die Errichtung vieler Häuser in diesem Bereich eh zu einem Zusammenwachsen gekommen war. Die von beiden Parteien gewünschte Eingemeindung von Fischendorf nach Dorfmark wurde am 1. Dezember 1927 vollzogen. Die Bevölkerung kommentierte das Ereignis mit einem kleinen Gedicht:
„Man hört zur Zeit im deutschen Vaterlande
soviel von seiner Länder Umgestaltung
und von der Vereinfachung in der Verwaltung:
Zusammenschluss hat man als Heil erkannt.
Dorfmark und Fischendorf, der Nachbarort,
sind nun nach ihrem Wunsche und Verlangen
mit gutem Beispiel schon vorausgegangen
in Eins verschmolzen sind sie nun hinfort.“
Wunsch und Verlangen der Westendorfer war es dagegen, ihre Selbständigkeit zu wahren. Sie widersetzten sich allen anderslautenden Beschlüssen des Kreisausschusses. Per Erlass wurden Westendorf und Winkelhausen am 17. Oktober 1928 nach Dorfmark eingegliedert. Zumindest auf dem Vereinssektor bewahrten sich die Westendorfer auch weiterhin ihre Eigenständigkeit: bis zum heutigen Tag besteht neben dem Schützenkorps Dorfmark der Schützenverein Westendorf fort. Am 17. Oktober 1928 verlor auch das erst zwischen 1823 und 1826 als Siedlung angelegte Adolphsheide verlor seine Selbständigkeit durch die gegen seinen Willen vollzogene Eingemeindung nach Fallingbostel.
Auf Gemeindeebene gab es danach jahrzehntelang keine Änderung. Allerdings wurde Mitte der 1960er Jahre immer deutlicher, dass eine grundlegende Gebiets- und Verwaltungsreform nicht mehr länger umgangen werden konnte. Das niedersächsische Innenministerium berief deshalb eine Sachverständigenkommission ein, die nach ihrem Vorsitzenden Weber-Kommission genannt wurde. Sie erhielt den Auftrag, unter dem Gesichtspunkt optimaler Leistungsfähigkeit Vorschläge für eine Gebietsreform auf Gemeinde- und Kreisebene und eine Neuordnung der Regierungs- und Verwaltungsbezirke zu erarbeiten.
Nach vierjähriger Tätigkeit legten die Sachverständigen im März 1969 ihr Gutachten vor, das die Reduzierung der Bezirksregierungen, die Verlagerung von Kompetenzen in die Kreisinstanz, die Herstellung der Einheit der Verwaltung auf Kreisebene, die Betrauung der Gemeinden mit neuen Aufgaben sowie den Zusammenschluss von Kreisen und Kommunen zu leistungsfähigeren, finanzstärkeren größeren Einheiten vorsah.
Die Landesregierung nahm zuerst die Gemeindereform in Angriff. Eine Bestandsaufnahme hatte ergeben, dass annähernd die Hälfte der 4233 niedersächsischen Gemeinden weniger als 500 Einwohner hatte. Dazu stellte der Kommissions-Bericht fest: „Trotz hingebungsvollen Einsatzes der in den Gemeinden Tätigen sind die niedersächsischen Gemeinden in ihrer Mehrzahl den an sie gestellten Ansprüchen, besonders auf dem Gebiet der daseinsvorsorgenden Verwaltung und der Bauleitplanung nicht mehr gewachsen. In den ländlichen Gebieten werden Aufgaben, deren Erfüllung heute dringlich geboten erscheint, weithin nicht oder nur unvollkommen wahrgenommen. Vielfach fehlt es sogar an den wichtigsten Einrichtungen einer kommunalen Grundausstattung, wie zum Beispiel auf dem Gebiet der Wasserversorgung, der Müll- und Abwasserbeseitigung, der sozialen Einrichtungen, des Schulbaus, der Sportstätten usw.“
Da die zum Teil noch ehrenamtlich verwalteten, über nur äußerst geringe Finanzkraft verfügenden kleinen Gemeinden zur Erfüllung des kommunalen Selbstverwaltungsgebotes nicht in der Lage waren, entwickelten die Sachverständigen das Leitbild von Verwaltungseinheiten mit mindestens 7000 bis 8000 Einwohnern. Nur in dünnbesiedelten Gebieten sollte die Richtzahl auf 5000 herabgesetzt werden können.
Dem Gesetzgeber blieb es überlassen, das ihm in die Hand gegebene Leitbild konkret auf die einzelnen Gemeinden anzuwenden und festzulegen, welche der von der Kommission aufgelisteten 293 Aufgaben den Kommunen neu übertragen werden sollten. Das niedersächsische Innenministerium legte für die Neugliederung der Gemeinden im Raum Soltau/Fallingbostel im November 1971 einen Diskussionsvorschlag vor, der den Zusammenschluss der Stadt Fallingbostel und der Gemeinden Dorfinark, Jettebruch, Riepe, Mengebostel, Vierde, Bommelsen und Kroge sowie des gemeindefreien Bezirks Osterheide vorsah. Als Organisationsform wurde sowohl die Samt- wie auch die Einheitsgemeinde zur Wahl gestellt.
Dorfmark, das sich schon dagegen gewehrt hatte, bei der Aufstellung des Bezirksraumordnungsprogramms in den Jahren 1969/70 Fallingbostel zugeordnet worden zu sein, hielt diesen Vorschlag für unannehmbar. Der Gemeinderat sprach sich am 7. Dezember 1971 einstimmig für die Bildung einer selbständigen Einheitsgemeinde mit Mengebostel, Riepe und Jettebruch aus. Diese Gemeinde hätte 3800 Einwohner gehabt, also noch nicht einmal die Richtzahl für dünnbesiedelte Räume erreicht. Dorfmark verwies darauf, für die umliegenden Gemeinden zentralörtliche Funktion zu besitzen. Von der Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens zeuge, dass mit zum Teil erheblichen finanziellen Aufwand die erforderlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge geschaffen worden seien.
Der Fallingbosteler Stadtrat hatte zunächst für die Bildung einer Samtgemeinde votiert, der als weitere Mitglieder Dorfmark und Osterheide angehören sollten. Dadurch wollte man das Fehlen jeglicher „Annexionsabsicht“ unterstreichen. Als jedoch feststand, dass der gemeindefreie Bezirk Osterheide wegen der besonderen militärischen Belange in seinem bisherigen Status weiterbestehen würde, räumte der Stadtrat für diesen Fall der Bildung einer Einheitsgemeinde den Vorzug ein.
Die Stadt Fallingbostel stimmte der Gebietsreform grundsätzlich zu. Daran änderte sich auch nichts, als sich Überlegungen zerschlugen, die von jeher kirchlich und schulisch mit Fallingbostel eng verbundenen Orte Tietlingen, Wenzingen und Elferdingen einzugemeinden. Akzeptiert wurde die Reform auch von der Gemeinde Vierde, die in allen Bereichen der Grundversorgung auf Fallingbostel ausgerichtet war. Die Vierder und die Fallingbosteler Kommunalpolitiker erkannten die Realitäten an und traten in Verhandlungen über einen Grenzänderungsvertrag ein. Er sollte mit der Gebietsreform in Kraft treten und die dadurch aufgeworfenen Fragen einvernehmlich regeln. Oberkreisdirektor Dr. Seilmann nannte die Unterzeichnung des Vertrages am 27. September 1972 klug und vorausschauend. Es sei ein Merkmal guter Kommunalpolitik, keine Angst vor der Zukunft zu empfinden und die Weichen rechtzeitig zu stellen. Der Blick in die Vergangenheit genüge nicht.
Dorfmark empfand die Eingemeindung nach Fallingbostel als das Schlimmste, was ihm in seiner 1000-jährigen Geschichte passieren konnte. Als eine Kommission des Innenausschusses des Landtages im April 1972 den Kreis bereiste, gab Dorfmarks Bürgermeister Stelter den Parlamentariern mit auf den Weg: „Wenn Dorfmark zu Fallingbostel käme, dann würde es zu einem Wohn- und Schlafteil der Kreisstadt degradiert werden.“ Wiederholt stellte Dorfmark die starken Bindungen an Soltau heraus. Dort würden die Einkäufe des gehobenen Bedarfs erledigt, dort säßen viele Behörden und Dienststellen, dort würden Fachärzte aufgesucht, in das dortige Krankenhaus ließen sich Dorfmarker einweisen. Mit Fallingbostel bestehe dagegen eine Konkurrenz auf den Gebieten Fremdenverkehr und Gewerbeansiedlung.
Die Gemeinden des Kirchspiels Dorfmark beantragten deshalb am 19. März 1973 beim Regierungspräsidenten in Lüneburg, Dorfmark als zentralen selbständigen Ort bestehen zu lassen und ihn dem Mittelzentrum Soltau zuzuordnen. Um die Mindesteinwohnerzahl zu erreichen, wurden Erwägungen angestellt, ob auch Bommelsen, Kroge, Woltem, Meinern, Mittelstendorf oder Marborstel nach Dorfmark eingemeindet werden könnten.
Bestärkt fühle mochten sich die Dorfmarker durch das Beispiel der 2700-Seelen-Gemeinde Wietzendorf, die durch den Hinweis auf ihre besondere Situation die ursprünglich vorgesehene Eingemeindung nach Soltau verhindern konnte. Wegen der zum Teil erheblichen Entfernung zur Stadt Soltau und der Lage zwischen den Truppenübungsplätzen, die eine sinnvolle Zuordnung zu einem anderen Gemeinwesen unmöglich machte, schien es geraten, Wietzendorf als Einheitsgemeinde bestehen zu lassen.
Dorfmark verwies ebenfalls auf seine Lage am Rande des Truppenübungsplatzes, die zu einem Entwicklungsdefizit geführt habe. Der Gesetzgeber konterte jedoch: Gerade deshalb verböte sich die Bildung einer entwicklungsschwachen Einheit. Nur durch die Schaffung einer leistungsfähigen, einwohnerstarken großen Einheit Fallingbostel könne das behauptete Entwicklungsdefizit ausgeglichen und den künftig steigenden Anforderungen entsprochen werden. Am 25. Mai 1973 verabschiedete der Landtag das Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden im Raum Soltau/Fallingbostel, ohne dass von Dorfmarker Seite aus noch Änderungen erreicht werden konnten.
Bei der abschließenden Lesung des Gesetzes war noch einmal angerissen worden, dass die geringe Entfernung zwischen den drei zentralen Orte Walsrode, Fallingbostel und Bomlitz es nahegelegt hätte, aus ihnen eine einzige leistungsfähige Gemeinde zu bilden. Auf eine Zusammenlegung wurde schließlich verzichtet, weil eine solch außergewöhnlich großflächige Kommune eine optimale verwaltungsmäßige Versorgung nicht gewährleisten konnte. Allerdings erwartete der Landtag von den selbstständig belassenen Gemeinden ein „Höchstmaß an gemeinsamer Planung“, um sicherzustellen, dass keine konkurrierenden Entwicklungstendenzen auftreten würden. Der lange Jahre bestehende Planungsausschuss bzw. die spätere Regionalversammlung der Städte Walsrode und Fallingbostel und der Gemeinde Bomlitz entsprach dieser Vorgabe.
Mit der vom Landtag beschlossenen Eingemeindung wollten sich die Dorfmarker nicht abfinden. Gemeindedirektor Rockensüß gab die Parole aus: „Wir wehren uns mit Händen und Füßen dagegen, in eine konkurrierende Stadt eingegliedert zu werden.“ Die Bürgerinitiative Komitee „Selbständiges Dorfmark“ malte die negativen Folgen aus: „Unterordnung und Randlage zu einer Stadt, die nicht unsere Interessen vertritt; schwierige Verwaltungsgänge, zeitraubende Wege; Bevormundung und Zweitrangigkeit unserer Heimatgemeinde; stagnierende Weiterentwicklung nach großen Leistungen; Verwendung Dorfmarker Gelder, für fremde Zwecke.“
750 Bürger beteiligten sich im August 1973 an einer Protestversammlung, auf der Werner Bokelmann kritisierte, dass Dorfmark auf diktatorischem Ordnungswege eine angeblich fortschrittliche Neuerung aufgezwungen werden solle, in der man hauptsächlich nur Nachteile für das eigene Gemeinwesen entdecken könne. Zwei Tage später hieß es dann beim Strandfestumzug:
„Sie nimmt uns viel,
sie gibt uns um so weniger,
die Gebietsreform;
Dorfmark bleibt selbständig [...].“
Die Aktionen der Dorfmarker fanden ein breites Echo in den Medien. Der Bericht der angesehenen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. September 1973 schlug allerdings einen kritischen Ton an: „Sie haben ein etwas hypertrophiertes Bewußtsein ihrer Bedeutung, die Dorfmarker. [..] Stolz und Selbstbewußtsein haben sich in diesen Wochen in einem trotzigen und etwas einfältigen Satz artikuliert: Dorfmark bleibt Dorfmark! [...] Unversehens ist auch der alte Erbkrieg zwischen Fallingbostel und Dorfmark ausgebrochen. Neuer Zündstoff facht uralten Zunder wieder an.“
Es geht sicherlich nicht an, den demokratischen Gesetzgebungsprozess als diktatorischen Verordnungsweg zu bezeichnen, doch wird hier ein grundsätzliches Problem berührt. Paradoxerweise musste sich eine Reform, deren ausdrückliche Absicht es war, zu mehr Bürgernähe beizutragen, fragen lassen: „Wo bleibt da noch ein demokratisches Selbstverständnis, wann zählt die Meinung des Bürgers überhaupt, wenn nicht hier?“
Zur Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen riefen 45 Landtagsabgeordnete den Niedersächsischen Staatsgerichtshof in Bückeburg an. Als Tag der mündlichen Verhandlung setzte der Staatsgerichtshof den 21. März 1974 fest, einen Termin, an dem die Gebietsreform bereits seit drei Wochen in Kraft getreten sein sollte.
Das Bestreben der Dorfmarker musste sich nun darauf richten, bis zur Gerichtsentscheidung alles zu verhindern, was geeignet schien, im Sinne der Reform vollendete Tatsachen zu schaffen. Ende 1973 wurden Grenzänderungsverträge abgeschlossen, die die Bildung einer selbständigen Einheitsgemeinde Dorfmark mit den Ortschaften Riepe, Jettebruch und Mengebostel vorsahen.
Öl ins Feuer der Reformgegner goss die Verfügung des Lüneburger Regierungspräsidenten, mit Wirkung vom 1. Januar 1974 den Standesamtsbezirk Dorfmark aufzulösen und in den Standesamtsbezirk Fallingbostel einzugliedern. Der Antrag der Gemeinde Dorfmark auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde zwar am 3. Januar 1974 abgelehnt, doch bis zum Verstreichen der Einspruchsfrist war man nicht gewillt, die Standesamtsunterlagen an Fallingbostel auszuhändigen. Mit Überschriften wie „Unsterblichkeit' von Amts wegen“ oder „In Dorfmark kann niemand mehr heiraten – Wegen Streits um Eingemeindung fehlt vorübergehend das Standesamt“ berichteten Zeitung über den kuriosen Zustand, dass der Standesbeamte in Dorfmark keine Amtshandlungen mehr vornehmen durfte, sein Fallingbosteler Kollege aber nicht über die notwendigen Unterlagen verfügte. Der Medienrummel trug sicherlich dazu bei, dass der Regierungspräsident am 10. Januar seine Verfügung aufhob und der Standesamtsbezirk Dorfmark – zunächst – wieder hergestellt wurde.
Der 1. März rückte unaufhaltsam näher. Das Komitee „Selbständiges Dorfmark“ kündigte an, die Einwohnern würden die Auflösung der Gemeindeverwaltung zu verhindern wissen. Sie versetzten damit den Fallingbosteler Stadtdirektor Gaebert in eine schwierige Lage. Er wollte die Emotionen der Dorfmarker nicht unnötig reizen, musste andererseits aber ein vom Landtag verabschiedetes Gesetz umsetzen. Als Kompromiss sollte zunächst das Büro der bisherigen Gemeindeverwaltung in Dorfmark bestehen bleiben und vorerst nur das Standesamt nach Fallingbostel verlegt werden.
Für die Dorfmarker war der Abtransport von Akten des Standesamtes am Morgen des 4. März 1974 über den Hinterhof des ehemaligen Rathauses ein Affront. Erzürnt luden sie in der folgenden Nacht mehrere Fuder Sand vor dem Eingangstor zum Hof ab. Am Nachmittag des 5. März schrillten um 16.00 Uhr die Notsirenen minutenlang durch den Ort, weil vermutet wurde, dass weitere Akten abgeholt werden sollten. Die Walsroder Zeitung berichtete über die Vorgänge: „Innerhalb weniger Minuten hatten sich am Rathaus 200 Bürger versammelt zu einer spontanen Warndemonstration. Autos blockierten den Eingang des Hauses. Die Verwaltung informierte den Fallingbosteler Stadtdirektor, der eine sofortige Schließung des Rathauses verfügte und die Beamten nach Hause schickte. [...] Nach gut einer Stunde löste sich die Demonstration auf.“ Seiner Phantasie freien Lauf ließ der Reporter der Bild-Zeitung, der sich um Fakten wenig kümmerte als er schrieb: „Nach stundenlangem Sirenengeheul hatten sich gestern 1000 Bürger vor dem Rathaus versammelt, um den Abtransport der Akten zu verhindern. Sogar nachts bewachten Männer mit Sensen die Gemeindeverwaltung“ Um seinen Artikel mit einem reißerischen Foto aufpeppen zu können, holte der findige Bild-Reporter kurzerhand einen riesigen Hund herbei.
Mit großer Spannung wurde der Ausgang Gerichtsverfahrens in Bückeburg erwartet. Stattliche Abordnungen aus Dorfmark, Mengebostel, Jettebruch und Riepe waren sowohl zur mündlichen Verhandlung als auch zur Urteilsverkündung am 4. Mai 1974 nach Bückeburg gereist. Gemeindedirektor Rockensüß gehörte nicht mehr zu den Gerichtsbeobachtern, er hatte am 1. März eine neue Stellung in Schleswig-Holstein angetreten. Tief enttäuscht mußten die Reformgegner vernehmen, dass der Staatsgerichtshof für Recht befand: „§ 6 des Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden im Raum Soltau/Fallingbostel vom 13. Juni 1973 [...] ist mit der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung vereinbar.“
Die Richter vermochten nicht zu erkennen, dass die Eingliederung der Gemeinde Dorfmark in die Stadt Fallingbostel auf der Grundlage offensichtlich fehlsamer oder gänzlich fehlender Erwägungen des Gesetzgebers erfolgt und das Anhörungsgebot verletzt sei. Die Urteilsbegründung setzte sich eingehend mit der institutionellen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung auseinander. Das Gericht stellte fest, dass sich daraus kein Anspruch von Gemeinden ableiten lasse, in ihrem Bestand gesichert zu sein. Sofern Eingriffe dem Interesse der Allgemeinheit dienten, seien sie zulässig. Die Wertung, eine selbständig bleibende Gemeinde Dorfmark mit 3801 Einwohner erfülle die mit der Gemeindeneugliederung verfolgten Ziele nicht, vielmehr könne nur die Vereinigung mit Fallingbostel eine angemessene neue gemeindliche Einheit zustande bringen, bleibe innerhalb der Grenzen, welche die Verfassung dem Landtag für die ihm zustehende Auswahl zwischen mehreren tauglichen Lösungen ziehe.
Die Entscheidung war gefallen. Obwohl die Dorfmarker auf ein anderes
Urteil gehofft hatten und der Richterspruch vereinzelt als politisch gescholten wurde, fügten sie sich in das Unvermeidliche und vollzogen die Eingliederung nach Fallingbostel. Im Stadtrat kam es schnell zu einer konstruktiven Zusammenarbeit. Ratsherren aus den Ortschaften waren in diesem Gremium stets angemessen vertreten. Mit Hans-Hellmut Jordan kam der Bürgermeister von 1975 bis 1984 aus Dorfmark.
Eigentlich hätte damit das Kapitel Gebietsreform abgeschlossen werden können. Doch da standen noch Versprechungen im politischen Raum. Vor der Landtagswahl am 9. Juni 1974 hatte der CDU-Landesvorsitzende Wilfried Hasselmann wiederholt die Versicherung abgegeben: „Kommt die CDU in die Regierung, wird das Gesetz über die Neugliederung der Gemeinden im Raum Soltau-Fallingbostel novelliert.“ Als dann die CDU seit Januar 1976 mit Dr. Ernst Albrecht den Ministerpräsidenten stellte, hörte man andere Töne. Wilfried Hasselmann erklärte im März 1982, er sei nicht gewillt, diese Frage noch einmal zu erörtern. Er schloss sogar die Bildung einer Koalition mit der FDP aus, sollten die Liberalen auf einer Änderung des Reformgesetzes bestehen.
In der Tat hatte sich nun die FDP zum Fürsprecher der Reformgegner gemacht. Als 1986 die CDU für die Regierungsbildung auf die Stimmen der FDP angewiesen war, konnten die Liberalen eine Überprüfung der Problemgebiete in die Koalitionsvereinbarung einbringen. Ende 1987 wurde die Stadt Fallingbostel aufgefordert, innerhalb von nur vier Wochen einen 25 Punkte umfassenden Fragenkatalog zu beantworten. Das Komitee „Selbständiges Dorfmark“ meldete sich aus diesem Anlass erneut zu Wort und behauptete: „So wird auch das vitale Kirchspiel Dorfmark sich selbständig – mit eigenem Steueraufkommen und Bedarfszuweisungen wirtschaftlich weiterentwickeln können. Das Kirchspiel Dorfmark hat in über 1000 Jahren die Pest und alle Kriege überstanden.“
Der Stadtrat widersprach dieser Auffassung, als am 16. November 1987 auf einer sechsstündigen Ratssitzung im Dorfmarker Gasthaus „Zu den drei Linden“ die Stellungnahme der Stadt mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Stadtdirektor Korner hob hervor, dass Bedarfszuweisungen nichts Selbstverständliches seien, sondern nur in Not geratenen Gemeinden gewährt würden, die bereits ihre freiwilligen Aufgaben eingestellt und sämtliche Einnahmemöglichkeiten ausgeschöpft hätten. Eine wirtschaftliche Weiterentwicklung könne unter diesem Gesichtspunkt nicht erwartet werden, vielmehr gelte: „Ohne fremde Hilfe wird eine Gemeinde Dorfmark demnach nicht existenzfähig sein können.“
Die Daten in der umfangreichen Stellungnahme der Stadt belegten, dass von einem „Ausbluten“ Dorfmarks nicht die Rede sein konnte. Vielmehr waren im Zeitraum seit Inkrafttreten der Gemeindereform knapp 20 Millionen Mark für Maßnahmen in Dorfmark ausgegeben worden, zu denen unter anderem Straßenbaumaßnahmen, Schmutz- und Regenwasserkanalisation, Anschluss an das Versorgungsgebiet der Stadtwerke Fallingbostel, Beendigung des Kindergartenneubaus und der Grundschulsportplatz zählten. Angesichts dieser Bilanz konstatierte Hans-Hellmut Jordan: „Wir wollen nicht, dass das Licht in Dorfmark ausgeht, wir wollen weiterhin an den starken Generator Fallingbostel angeschlossen bleiben.“ Stichhaltige Gründe für eine Revision der Gebietsreform im Falle Dorfmarks ergaben sich nicht, so dass die CDU/FDP-Landesregierung übereinkam, hier das Gemeindeneugliederungsgesetz nicht aufzuheben.
Bei dem 1974 gefundenen „Stadtzuschnitt“ von Bad Fallingbostel blieb es bis heute. Pläne, bis zur Kommunalwahl 2011 einen Zusammenschluss der Städte Walsrode und Bad Fallingbostel mit der Gemeinde Bomlitz zur neuen Stadt Böhmetal zu realisieren, scheiterten an einer Bürgerbefragung, die am 2. November 2008 durchgeführt wurde. In Bad Fallingbostel sprachen sich knapp unter 80 % der Wähler bei einer Wahlbeteiligung von knapp 62 % gegen die Fusion aus. In Walsrode und Bomlitz gab es eine Zustimmung (56,4 % in Bomlitz und 53,8 % in Walsrode) für die Fusion. Auch wenn eine Bürgerbefragung für die Räte nicht bindend ist, wurde deren Ergebnis umgesetzt. Am 10. November 2008 lehnte der Bad Fallingbosteler Stadtrat die Fusion ab, während die Räte in Bomlitz und Walsrode für die Fusion stimmten. Eine Stadt Böhmetal konnte also nicht gebildet werden. Aber zwölf Jahre später kam es dann zur Fusion von zwei Partnern: Zum 1. Januar 2020 wurde die Gemeinde Bomlitz in die Stadt Walsrode eingemeindet, die seitdem aus 31 Ortschaften besteht.