Archivalie des Monats August 2014: Der Erste Weltkrieg
Der Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren ist ein Thema, das zurzeit von vielen Büchern, Fernsehsendungen, Ausstellungen und Tagungen aufgegriffen wird. Immer stärker wird dabei der Blick auch darauf gerichtet, wie der Krieg sich weitab der Front in den Städten und Gemeinden ausgewirkt hat, aus denen die Soldaten kamen. Dank der „Orts-Chronik von Fallingbostel", die Wilhelm Westermann in zwei Bänden 1949 und 1952 veröffentlicht hat, sind wir zumindest in Kurzform über die Lebensläufe der meisten der Gefallenen, Verwundeten und Kriegsgefangenen aus Fallingbostel informiert.
„Mit den Abendzügen fahren die ersten Gestellungspflichtigen zu ihren Truppenteilen", hält Wilhelm Westermann für den 1. August 1918 in seiner Orts-Chronik fest. An einen Weltkrieg dachten damals nur wenige, war doch die Erwartung weit verbreitet, bald schon in Paris zu sein und den Gegner besiegt zu haben. Das Bild von jubelnden, kriegsbegeisterten Menschen hat sich tief im kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Heute jedoch wissen wir, dass die Kriegsbegeisterung vor allem in bürgerlichen Schichten, allen voran bei Gymnasiasten und Studenten, groß war, während in ländlichen Regionen, in denen die jungen Männer dringend bei der Ernte benötigt wurden, und in den Arbeitervierteln der Großstädte weitaus weniger Jubel aufkam.
Wie auch immer die Stimmung in Fallingbostel gewesen sein mag, der Ort hatte einen hohen Tribut zu entrichten. Welche Auswirkungen der Krieg hatte, lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass in Fallingbostel im Jahr 1907 gerade einmal 1303 Einwohner lebten. Mag sich die Einwohnerzahl bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auch vergrößert haben – die von Westermann erwähnten 44 Gefallenen, 45 Verwundeten und 21 Kriegsgefangenen machen einen erheblichen Teil der „kriegsverwendungsfähigen" männlichen Bevölkerung des Ortes aus. Wohl kaum eine Fallingbosteler Familie dürfte unter diesen Kriegsopfern keinen Verwandten gehabt haben. Die als "Berichte aus dem Stadtarchiv Bad Fallingbostel Nr. 3" veröffentlichte Liste kann im PDF-Format, als EPUB und für den Kindle heruntergeladen werden.
Wer heute die Liste von Wilhelm Westermann liest, wird unschwer erkennen, dass an manchen Stellen Darstellungsweise und Wortwahl ein Zeugnis ihrer Entstehungszeit sind. Westermann beschäftigte sich mit dem zweiten Band seiner „Orts-Chronik" am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. So wie es in der Weimarer Republik mit der Dolchstoßlegende eingetrichtert worden war, kommt bei ihm Zweifel an den militärischen Operationen nicht auf, wohl aber wird die Revolution von 1918 geschildert als „[…] Zeit des Aufruhrs, in der der Mob selbst die Lazarette nicht verschonte […]" (bei Karl Schwenger, Nr. 9 der Verwundetenliste). Erwähnt wird, wie sich Friedrich Panning und Friedrich Peters (Nr. 8 der Verwundetenliste) und Willi Uetzmann (Nr. 10 der Gefangenenliste) dem „Grenzschutz Ost" oder der „Brigade Erhardt" im Kampf gegen die Weimarer Repbulik anschlossen. Nicht jedoch erklärt wird, weshalb der 100 % kriegsbeschädigte Dietrich Nülle nur bis 1933 bei der Stadtverwaltung in Hannover beschäftigt war und dann nach Fallingbostel zurückkehrte. Das war kein freiwilliger Schritt, sondern Nülle wurde aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" als politisch unliebsam entlassen.
Von Heinrich Fuhrhop (Gefangenenliste Nr. 4) heißt es: „Die Behandlung der Verwundung, sowie die allgemein menschliche Behandlung seitens der Engländer in einem Vorort Londons, wohin er gebracht wurde, ließ viel zu wünschen übrig." Aus Westermanns Orts-Chronik erfährt der Leser aber nicht, wie es jenen Gefangenen ergangen sein mag, über die unter dem Datum des 5. Januar 1919 berichtet wird: „Die Kriegsgefangenen – Russen, Belgier, Franzosen –, die über ein Jahr ihr Lager im ‚Böhmetal‘-Saal – heute Lichtspielhaus – hatten, wurden in die Heimat entlassen." Wenn ausführlich darüber berichtet wird, dass Willi Bremer (Nr. 16 der Gefangenenliste) in einem Lager der Amerikaner im Winter auf der kahlen Erde im dünnen Zelt liegen musste und Hermann Meinecke (Nr. 15 der Gefangenenliste) in einem verschlossenen Güterwagen aus einem Waldlager abtransportiert wurde, so drängen sich den mit der Geschichte der Stalags in Oerbke vertrauten Lesern die Bilder jener sowjetischen Soldaten auf, die ab Juli 1941 in Güterwagen auf dem Fallingbosteler Bahnhof eintrafen und im Kriegsgefangenenlager zunächst nur in den mit dem Essensgeschirr gegrabenen Erdlöchern Unterschlupf fanden. Unzureichende Ernährung, mangelnde Hygiene und der Ausbruch einer Typhus- und Fleckfieberepidemie führten im strengen Winter 1941/42 zu einem grausamen Massensterben.
Trotz dieser Einschränkungen bleibt Wilhelm Westermanns Liste ein genauso wichtiges Dokument wie die „Ehrentafel für die Gefallenen u. Mitkämpfer des Weltkrieges 1914/18", die im Stadtarchiv Bad Fallingbostel leider nur in zwei in schlechtem Erhaltungszustand befindlichen Exemplaren vorhanden ist.
Heute ist es kaum noch vorstellbar, wie sehr im wilhelminischen Kaiserreich dem Militarismus gehuldigt wurde. Die mitgliederstärksten Vereine waren die Kriegervereine. Aber nicht nur in ihnen, sondern auch an vielen anderen Stellen, nicht zuletzt in den Schulen, wurde die nationale Gesinnung propagiert. In der Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues" wird in einer Szene gezeigt, wie Lehrer Kantorek durch seine unaufhörliche Beschwörung, süß und ehrenvoll sei es, für das Vaterland zu sterben, eine ganze Klasse dazu bringt, sich als Kriegsfreiwillige zu melden.
Wie wenig jedoch das von Horaz geprägte Wort „dulce et decorum est pro patria mori" auf den Stellungskrieg und die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges passt, erfährt der Schüler Paul Bäumer bald schon an der Front. Als er desillusioniert auf Heimaturlaub kommt, macht er zum ungläubigen Erstaunen seines Lehrers, aber auch der jetzigen Schüler, aus seiner Haltung keinen Hehl: „Ja, Sie erzählen ihren Schülern immer noch dasselbe. […] Sie sagen immer noch, es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Wir haben ihnen das alles geglaubt. Nach dem ersten Trommelfeuer wussten wir es besser. Er ist dreckig und furchtbar, dieser Tod fürs Vaterland und nichts am Sterben fürs Vaterland ist süß. […] Vorn an der Front ist man lebendig oder tot, und das ist alles. Da braucht man sich keine Heldengeschichten zu erzählen. Und da wissen wir, dass wir verloren sind, ob wir nun tot sind oder am Leben. Drei Jahre von dieser Hölle, vier Jahre, und jeder Tag wie ein Jahr und jede Nacht wie ein ganzes Jahrhundert. Unsere Körper sind Erde und Lehm sind unsere Gedanken und wir schlafen und essen mit dem Tod. Wir sind verloren, denn wer so lebt wie wir, der bewahrt nichts in sich."
Solche Gedanken können sich durchaus aufdrängen, wenn man die lange Liste der Lebensschicksale liest, die Wilhelm Westermann skizziert hat. Denn welches Leid tritt da dem Leser entgegen, wie viel Tod und grausame Verletzungen, aber auch welche, anders als die in Prozenten bezifferbaren körperlichen Kriegsbeschädigungen kaum in Worte zu fassenden seelischen Spätfolgen!