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Archivalie des Monats Dezember 2017: Friedrich Freudenthal - Weihnachten in alter Zeit im Heidedorfe

Der 1849 in Fallingbostel geborene Schriftsteller Friedrich Freudenthal hat zwar nur seine allerersten Lebensjahre bei den Eltern verbracht, bevor er dann zu seinen Großeltern nach Fintel kam, dennoch wird manches von dem, was in er seinen Erinnerungen „Weihnachten in alter Zeit im Heidedorfe" berichtet, auch auf seinen Geburtsort übertragen werden können.

Friedrich Freudenthal (1849-1929) beschreibt, wie das Weihnachtsfest am Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bei den Großeltern in Fintel gefeiert wurde, er berichtet aber auch davon, wie im Nachbardorf W., wobei es sich, so hat Heinrich Kröger nachgewiesen, um Großenwede handelt, schon eine „Neuerung" Einzug gehalten hat: Dort findet in der Schule am Abend des ersten Weihnachtstages eine Feier am Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen statt!

Friedrich Freudenthal hat den Text „Weihnachten in alter Zeit im Heidedorfe" im Dezemberheft 1914 der von ihm zusammen mit seinem ebenfalls in Fallingbostel geborenen Bruder August (1851-1898) gegründeten Zeitschrift „Niedersachsen" veröffentlicht. Friedrich Freudenthal hatte damals die Schriftleitung für den plattdeutschen Teil von „Niedersachsen – Illustrierte Halbmonatsschrift für Geschichte und Familiengeschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache, Kunst und Literatur Niedersachsens" inne. Anders als die meisten prominenten Schriftsteller seiner Zeit ließ er sich nicht von der Kriegsbegeisterung hinreißen.

Während Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann vom „Augustfieber" infiziert wurden und sich wortmächtig in patriotischen Phrasen ergingen, blieb Friedrich Freudenthal, der 1866 bei Langensalza und 1870 bei Gravelotte erfahren hatte, welch Grauen ein Krieg für alle Beteiligten ist, dem Kriegsvirus gegenüber resistent. Bereits am 1. August 1914 notierte er in seinem Tagebuch: „Mobilmachung! Ich sagte unter dem ersten Eindruck: ‚Düsse Krieg is dat grötste Unglück, wat jemals öwer Dütschland kamen is; düssen Krieg ward us Kinneskinner noch verfluchen.’"

Bedenkt man diesen Kontext – der trotz Freudenthals Haltung auch in der Zeitschrift „Niedersachsen" deutlich wird, folgt auf die Erinnerungen doch das in den Refrain „Min Söhn hett’t isern Krüz!" mündende Gedicht „Moderglück" von H. Rahmeyer – dann wirkt Freudenthals Rückbesinnung auf das Weihnachten in alter Zeit auch ein wenig wie die melancholische Beschwörung eines Gegenbildes aus der Jugendzeit.

Friedrich Freudenthal hat seine Erinnerungen auch in seinen Prosaband „Zwei gute Kameraden und anderen Heidegeschichten" übernommen. Drei Anmerkungen wurden dabei von ihm hinzugefügt, die im Folgenden in eckige Klammer gesetzt wurden. Erläuterungen, die sich schon in der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Niedersachsen" fanden, sind in runden Klammern wiedergegeben.

Die Veröffentlichung in der Zeitschrift "Niedersachsen" kann als Scan mittels des folgenden Links aufgerufen werden.

 

Friedrich Freudenthal: Weihnachten in alter Zeit im Heidedorfe - Scan der Veröffentlichung in der Zeitschrift "Niedersachsen"

 

Friedrich Freudenthal

Weihnachten in alter Zeit im Heidedorfe

Zu einem richtigen Weihnachtsfest gehört eine Schneelandschaft – so denken wir im allgemeinen und so denken auch die Maler und Zeichner. Man sieht daher auf ihren Bildern so häufig das Kirchlein im Schnee mit erleuchteten Fenstern, zu dem am Weihnachtsabend fromme Menschen pilgern, oder man sieht den winterlichen Wald mit dunklen Tannen, die ihre schneebeladenen Zweige tief zur Erde neigen, und im einsamen Walde schreitet ein Mann, der eine junge Tanne heimwärts schleppt; oder die Weihnachtsbotenfrau mit ihrer Kiepe sehen wir, oder gar Knecht Ruprecht selber, und alle drei bahnen sich mühsam ihren Weg durch hohen Schnee und haben sich zum Schutz gegen Frost und Wind sorgfältig in schützende Gewänder gehüllt. Ja, so eine recht winterliche Landschaft zur Weihnachtszeit ist sehr schön – auf Bildern und auch in der Wirklichkeit, und sie mag ja in den südlicher und höher gelegenen Gegenden Deutschlands die Regel sein, bei uns im Norden aber, in unserer tief gelegenen Heide, über die der feuchte Westwind vom Meere her frei dahinstreicht, ist solch eine echte Winterlandschaft eine Ausnahme. Bei uns herrschen bekanntlich zur Weihnachtszeit vorwiegend jene grauen, wenig erhellten, nebel- und regendunstigen Tage, die sich meistens schon im November einstellen und uns erst verlassen, wenn wir uns wieder nach Lichtmeß hinaufarbeiteten und in jene Zeit gelangten, wovon es im Bauernsprichworte heißt: „Wenn sick de Daag’ beginnt to längen, beginnt sick de Winter to strengen."

Wenn ich mich im Geiste in meine Kindheit zurückversetze und der Weihnachtsfeiern gedenke, deren ich mich noch deutlich erinnere, so taucht immer wieder so eine nebelgraue Weihnachtszeit vor mir auf, die ich gegen Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erlebte. Ich wohnte in einem einsamen Heidedorfe bei meinen Großeltern, und mein Großvater war der Lehrer im Orte. Wenn wir am Abend vor Weihnachten zu Bette gehen wollten, sagte meine Großmutter: „Junge, stell ‘n lütten Korv up den Disch, dat könn wesen, dat de Wihnachtsmann in de Nacht köm un di en Kinjees [Weihnachtsgeschenk (Kind Jesu)] bröch!" Mein Großvater meinte dann, es würde vielleicht gut sein, wenn ich auch ein Körbchen vor das Hühnerloch auf der großen Diele – „up dat Mull" [Spreu und Kehricht] – stellte, denn es könnte sein, daß der Weihnachtsmann auch in dieses Körbchen ein Geschenk für mich hineinlegen möchte. Ich glaubte zwar damals nicht mehr an den Weihnachtsmann, der in der Christnacht – wie man kleinen Kindern erzählt – schwer bepackt von Haus zu Haus gehen sollte, aber einmal hatte ich doch an ihn geglaubt, und andererseits wieder war mein kindliches Herz so sehr vom wunderbarlichen Zauber der weihnachtlichen Zeit erfüllt, daß es mir nicht schwer wurde, etwas zu glauben oder mit geheimnisvoller Macht auf mich einwirken zu lassen, was ich eigentlich hätte für ein Märchen halten müssen.

Lange lag ich abends in meinem Bette wach und horchte nach der offen stehenden Tür hin, die von der Kammer in die Stube führte, ob wohl irgend jemand käme und in mein Körblein auf dem Tische etwas hineinlegte. Doch darüber schlief ich endlich ein. Wurde ich dann am Christmorgen beim ersten Tagesgrauen wach und mir bewußt, daß es Weihnachten war, so sprang ich aus meinem Bette und lief in die Wohnstube, wo schon die Lampe brannte . . . Richtig! Der Weihnachtsmann war dagewesen! Das Körbchen war gefüllt! …

Es waren nur geringwertige Gegenstände, womit ich an solchen Weihnachtsmorgen beschenkt wurde. Da war zunächst eine weibliche Figur aus gewöhnlichem Semmelteig, die einen großen Stern aus Goldschaum wie einen persischen Sonnenorden mitten auf der Brust trug. Dies war die eigentliche „Kinjeespopp", die nicht fehlen durfte. Dann kam der nicht minder wichtige „Rüter", der gleichfalls aus Semmelteig gebacken und mit goldenem Zierat beklebt war. Die weibliche Figur und der „Rüter" waren in ihrer Form höchstwahrscheinlich noch Überbleibsel aus uralter heidnischer Vorzeit. Möglicherweise steckte hinter dem mit seinem Pferde zusammengewachsenen Semmelreiter der Helljäger (Wuotan), der ja nach altem Volksglauben in den Zwölfnächten (von Weihnachten bis zum Dreikönigstage) in der Luft seinen Umzug hielt.

In meinem Sammelkörbchen fanden sich ferner einige braune Kuchen, eine Anzahl Hasel- und Walnüsse und einige Gegenstände, die nicht zum Aufessen bestimmt waren, vielleicht ein Paar Handschuhe, ein billiges Taschenmesser, Schreibgerät oder dergleichen. Von der Wohnstube eilte ich flugs zur Diele, wo die Magd schon bei trübem Laternenlicht tätig war, entweder die Kühe fütterte oder im Stalle saß und molk, und mir den Weihnachtsgruß zurief: „Wünsch di ok ‘n fröhlichen Wihnachten!"

Auch auf der Diele vor dem Hühnerloche fand ich das Körbchen gefüllt. Einige Kringel oder Semmel lagen dann wohl daneben, auf dem „Mull" zerstreut. Dann hieß es: „Ja, die hat der Weihnachtsmann verloren. Gewiß war in seinem Sacke ein Loch!"

Ich weiß noch, wie sehr ich durch solche kärgliche Gaben erfreut wurde, wie frohbewegt ich an einem solchen frühen Weihnachtsmorgen war und wie innig ich meinen lieben Großeltern dankte. Und ich erinnere mich auch noch, wie feierlich alles gestimmt war, wenn wir nach beendetem Frühmahl bei unserem zinnernen Öllämpchen um den Tisch herum saßen: der Großvater, die Großmutter und links neben mir unser junges Dienstmädchen Grete, und wenn dann der Großvater sein Samtkäppchen abnahm und aus dem Evangelium die Erzählung von der Geburt des Heilands las. Auch unser Stübchen hatte ein festliches Aussehen. Abends zuvor schon hatte Grete alles gereinigt, geordnet und gesäubert und die Diele mit weißem Sande bestreut. Unvergeßlich bleibt mir eine solche schlichte Weihnachtsfrühfeier im kleinen, spärlich erhellten Stübchen des Schulhauses, während draußen noch alles in ein nebliges Dämmergrau gehüllt war.

Weihnachtsbäume mit vielen Lichtern daran, die am Christabend angezündet wurden, gab es damals nur in zwei Häusern im Dorfe, in der Familie, die auf dem Gutshofe wohnte und im Pfarrhause. Grete, die aus einem Dorfe stammte, das eine Stunde entfernt lag, hatte mir schon in der Woche vor Weihnachten – das war jenes Weihnachtsfest vor reichlich fünfzig Jahren, wovon ich erzählen will – wahre Wunderdinge von einer Feier erzählt, die am ersten Weihnachtstage abends in der Schule ihres Heimatsortes stattfinde. Dort gab es einen Weihnachtsbaum mit vielen Lichtern und herrlichem Schmuck aus Goldflittern und farbigem Papier. Ja, der Glanz und die Freude, wenn alle Lichter brannten und die Kinder fröhliche Weihnachtslieder sangen! Das müsse ich mit ansehen – meinte Grete – ich würde Augen machen! . . . Unsere Grete, eine junge, lebhafte Dirne von siebzehn Jahren mit blonden Haaren und klugen, blauen Augen, nahm es bisweilen mit Worten nicht so sehr genau, ich wußte daher nicht recht, was ich von ihren begeisterten Schilderungen halten sollte, allerdings wünschte ich im stillen, daß es mir vergönnt sein möchte, auch einmal einen brennenden Weihnachtsbaum zu sehen.

Grete hatte, wie sie mir anvertraute, einen Plan gemacht. Sie wollte meine Großeltern bitten, ihr zu erlauben, am ersten Weihnachtsabend in ihrem Heimatsdorfe beim Christbaum mitzufeiern. Und weiter wäre geplant worden, daß ich und ein junges Mädchen aus einem Nachbarhause Grete begleiten und gleichfalls an der Weihnachtsfeier in W. teilnehmen sollten. Anna R., die Tochter eines Nachbarn, die wohl drei oder vier Jahre älter war als ich und täglich zu uns kam, war bereits in die Verschwörung eingeweiht und Feuer und Flamme. Es handelte sich nun noch darum, die Erlaubnis meiner Großeltern oder vielmehr der Großmutter zu erlangen, die fast allein in der Sache zu entscheiden hatte. Für eine Frau, die in Gretes Abwesenheit die Hausarbeiten verrichtete, hatte Grete schon gesorgt . . .

Alles glückte; wir bekamen die erbetene Erlaubnis und durften uns am ersten Weihnachtstage gegen Abend auf den Weg machen; am zweiten Weihnachtstage sollten wir dann vor Dunkelwerden heimkehren.

Fröhlich und wohlgemut wanderten wir drei zum Dorfe hinaus. Es war stilles, dunstiges Wetter, wie schon seit Wochen zuvor, grau hing über uns der Himmel, und verschwommen erschienen im Nebel die Häuser und die Baumgruppen auf den Hofstellen und in den Wiesen. Kein Laut – nicht einmal das heisere Gekrächz einer Krähe – war vernehmbar. Doch wir kümmerten uns nicht darum, gingen vielmehr fröhlich plaudernd weiter und hatten nach etwa zwanzig Minuten die letzten Felder und Wiesen des Dorfes hinter uns. Nun führte der Weg wohl eine Stunde weit durch die Heide bis zu den Feldern des Dorfes, wohin wir gehen wollten. Ein Damm, der infolge der Verkoppelung [Aufteilung der Gemeinheit (gemeinschaftlich genutzte Grundstücke)] erst vier oder fünf Jahre zuvor neu angelegt worden war, ging in gerader Richtung durch eine Niederung. Neben dem Damme, der in der Winterzeit sehr morastig war, zog sich in Windungen auf einem Heiderücken der alte Weg entlang. Da dieser ziemlich fest und trocken war, so wurde er, namentlich in nasser Jahreszeit, noch häufig benutzt.

Wir drei standen und ratschlagten, ob wir den neuen Weg gehen sollten oder den alten. Endlich entschlossen wir uns für den alten Weg, obwohl dieser keine Gräben und Baumreihen an den Seiten hatte.

Es war inzwischen rasch dunkel geworden, der Nebel verdichtete sich, und immer mehr schwand der schwache Schimmer des Himmelsgewölbes über uns, doch aus der schwarzen Heidefläche, die uns umgab, schimmerten etwas hellere Stellen hervor – das war der graue Sand auf dem Pfade und zwischen den Geleisen, der ein wenig vom dunklen Boden aufleuchtete. Diesen hellen Streifen folgten wir und schritten flink weiter; sie mußten uns, wenn sie sich auch hin- und herwandten, endlich zu dem Dorfe führen, das unser Ziel war. Nach einer geraumen Zeit kamen wir an eine Stelle, die im Volksmunde „Höögd" genannt wurde. Die „Höögd" war ein schmaler, gewölbter, fast dammartiger Heiderücken, der sich eine Stunde weit von Ost nach West durch Bruch und Moor erstreckte und unseren Weg kreuzte. Spuren von schanzenartigen Werken aus vorgeschichtlicher Zeit, darunter ein starker Wall, der sich an einer Stelle sperrend über die schmale „Höögd" zog, ließen vermuten, daß auf diesem Heiderücken einst ein bedeutender Heerweg entlang lief. Vielleicht war dieser Weg schon von Karl dem Großen benutzt worden, als er von der Verdener Gegend aus nach dem Bardengau zog.

Auf der „Höögd" verliefen mehrere sogenannte „dowe Weg’" links und rechts in die schwarze, nächtliche Heide. Ich ließ mich dadurch nicht irre machen, denn ich wußte genau die Richtung, die wir zu verfolgen hatten; meine Begleiterinnen dagegen wurden plötzlich stutzig und wandten sich nach rechts, gegen Westen, während doch das Dorf, wohin wir wollten, gar nicht mehr weit weg, aber südlich, vor uns lag. Die Mädchen hatten jegliche Richtung verloren, wurden völlig irre und rannten wie besessen weiter. Ich bat, schalt, schrie und suchte sie gewaltsam zurückzuhalten, aber alle meine Anstrengungen waren vergebens. Wie die wilde Jagd ging es auf dem Heiderücken entlang, und ich rannte in hellem Ärger hinterher. Übrigens tröstete ich mich damit, daß wir unfehlbar auf den neu aufgeworfenen Damm treffen mußten, der ja in einer Entfernung von reichlich zweihundert Schritt neben dem alten Weg herlief. Dann mußten wir uns auf dem Damme links wenden, und alles war wieder gut. Wir gelangten auch bald an den Hauptweg, aber es war mir auch jetzt nicht möglich, Grete und Anna zur Vernunft zu bringen. Sie hörten gar nicht auf mein gütliches Zureden, wandten, bevor wir auf den Damm kamen, die Köpfe flüchtig nach allen Seiten und stürmten jetzt in mehr südlicher Richtung weiter. Ich weinte vor Wut und stampfte den Boden, aber es half mir nichts, ich mußte folgen. Eine Strecke ging es über die feste Heide, jedoch dann kamen wir in ein Bruch, wo im Sommer Vieh weidete. Zerstreut standen dort, wie kleine Inseln, die festen „Bülten", und dazwischen war Sumpf und Morast; mehrere Fuß tief und jetzt, im Winter, mit Wasser gefüllt. Mit Todesverachtung ging es knietief durch den Schlamm, unaufhaltsam weiter, als ob es gelte, eine feindliche Schanze zu erstürmen. Die Mädchen waren beide rein toll geworden. Glücklicherweise wußte ich noch immer, wo wir waren und in welcher Richtung das Dorf lag.

Aus dem Bruch gelangten wir wieder auf festen Heidegrund. Im Nebel, der sich inzwischen etwas gelichtet hatte, wurden endlich die dunklen Umrisse eines Gebüsches sichtbar. Wir trafen auf Wälle, die mit Eichen und Birken bepflanzt waren; dahinter lagen Gärten, die uns bekannt waren, sie gehörten zu dem Dorfe W., wo wir fröhliche Weihnachten mit zu feiern gedachten. Hier kamen meine Begleiterinnen endlich zur Besinnung. Ihre Angst und ihre Verwirrung verwandelten sich plötzlich in helle Freude und ich wurde durch freundliches Zureden beschwichtigt. Am Ende mußte ich noch hoch und heilig geloben, daß ich meinen Großeltern gegenüber von dem, was wir soeben erlebt hatten, schweigen wolle.

* * *

Auf einem Bauerhofe in W. stand unter hohen Eichen ein kleines Häuslingshaus mit Lehmwänden und tief herunterhängendem Dache. Das war das Häuschen, worin Gretes Eltern wohnten. Durch seine erblindeten Scheiben drang nur ein schwacher Lichtschimmer nach außen. Grete tastete an der Tür nach dem Lederriemen, der nach alter Weise durch die Tür hindurchging und innen mit der die Tür sperrenden Klinke verbunden war. Als sie geöffnet hatte, drängten wir uns über die hohe Schwelle und standen nun im Flett. Auf dem niedrigen Herde brannte ein Torffeuer und schuf im Umkreis weniger Schritte ein trauliches, märchenhaftes Helldunkel. Im tiefen Schatten des Hintergrundes, seitwärts von der Diele, tauchten in dunklen Umrissen die Gestalten zweier Kühe auf, und im Rahmen der Tür, die rechts vom Herde in die „Dönz" führte, war eine Frau sichtbar. Dies war die Mutter Gretes, die uns hatte kommen hören . . . . Ja, da gab es ein großes Verwundern, als wir nun mit unseren vom Wasser triefenden Kleidern in der kleinen „Dönz" standen und voller Aufregung erzählten, wie es uns auf unserer Weihnachtswanderung ergangen war! . . . Vor dem kleinen Ofen, dessen Aufsatz aus Backsteinen bestand, die mit Lehm überklebt waren, hing am Haken der Krüsel mit dem in Tran getauchten Docht aus Binsenmark. Um die Ofenecke herum bog sich ein älterer Mann mit dunklem Haar und einer großen Hornbrille auf der Nase. Er saß auf einem niedrigen, mit Bast beflochtenem Stuhle, hatte seine Füße gegen den Ofen gestemmt und hielt ein gewichtiges Buch – anscheinend ein „Utleggenbook" – auf den Knieen. Wahrscheinlich hatte er noch soeben aus dem Buche vorgelesen. Der Mann sah mit freundlich-ernsten Augen über seine Brille hinweg auf uns und unsere nassen Füße und deren feuchte Spuren, die sich auf dem Lehmfußboden zeigten, und er sagte in kurzem, befehlendem Tone: „Mudder, nu klöän nich lang’n! Sök leewer drög Tüg her, dat de Gast erstmal de natten Pulten von’n Liew’ los ward! Un denn kaak jüm flink en starke Taß Kaffee!"

„Ja, Gott, ja, Vader, du hest ok ja recht!" rief Gretes Mutter und schleppte aus allen Winkeln Strümpfe und andere Kleidungsstücke herbei, so daß es uns möglich gemacht wurde, in kurzer Zeit unser durchnäßtes Zeug mit trockenem zu vertauschen. Bald stand auch eine rauchgeschwärzte Kanne mit dampfendem Kaffee auf dem Tische.

„So, min leewen Kinner, nu drinkt man erst gau ‘n Taß", nötigte Gretes Mutter, „dat ji anners Sinns ward! Naher giwwt dat mehr! Ji möt’t jö rögen, dat ji na de School kamt! De Schoolmester ward den Dannenboom woll hast anstäken!"

Wir beherzigten diese Worte und beeilten uns, um in das Schulhaus zu kommen. Dort fanden wir das Schulzimmer schon von Besuchern gefüllt; bis in den Vorplatz und zur Diele hin standen die jungen Mädchen und Burschen aus dem Dorfe. Man machte uns jedoch bereitwillig Platz, so daß wir fast bis zu dem schönen, schlanken Tannenbaum, der mitten im Schulzimmer aufgestellt war, vordringen konnten. Soeben wurden an dem buntgeschmückten Baum die letzten Wachskerzen angezündet. Der Glanz und die Helligkeit, die dadurch erzeugt wurden, erschienen mir wahrhaft blendend. Meine Augen waren an so viel Lichtfülle nicht gewöhnt, denn in unseren Dörfern in der Heide, in Bauernhäusern und Katen herrschte ja noch der Krüsel mit Binsendocht, und bei Arbeiten auf der Diele wurde mit dem Kienspan geleuchtet – im Pfarrhause gab es allerdings so ein Ding mit grünem Schirm, das etwas mehr Licht verbreitete und das „Studierlampe" genannt wurde.

Die Kinder sangen nun das alte Weihnachts-Jubellied: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!" und wir drei Besucher von „utwards", die wir uns fest aneinander drängten, sangen kräftig mit. Der Lehrer hielt hierauf eine längere Ansprache. Sodann wurden noch gemeinschaftlich mehrere Gesänge und Lieder gesungen, die der Lehrer auf einem Harmonium begleitete. Es folgte ein längeres Gebet, das vom Lehrer gesprochen wurde, und damit war die schlichte und schöne Feier beendet. Nach allen Seiten hin zerstreuten sich in der Dunkelheit die Teilnehmer. Wir drei hielten uns bei den Händen gefaßt, drängten uns durch die Menge und liefen vergnügt nach dem Hofe, wo Gretes Eltern wohnten.

Die Mutter hatte inzwischen das Mahl hergerichtet. Da gab es „Kleenbrod", Butter, Honig, Wurst und geräuchertes Fleisch, und dazu kam wieder die dickbäuchige Kaffeekanne auf den Tisch.

Nach dem Essen gingen Grete und Anna ins Dorf, um gute Bekannte und Freunde zu besuchen, und ich setzte mich zu Gretes Vater an den Ofen und begann nach meiner Weise nach allerlei zu fragen. Der Alte wurde warm und erzählte von der „Franzosenzeit", die er mit durchgemacht hatte, und auch von allerlei seltsamen Vorkommnissen und Ereignissen aus seinem Leben berichtete er. Und dann kamen wunderbare Geschichten vom „Vörlaat" und „Weddergahn", von bösen Menschen, die einem was antun können, und von allerlei Geheimnisvollem und Gruseligem mehr, wovon Gretes Vater eine ganze Menge wußte.

Ich hörte gespannt und aufmerksam zu, und die Stunden verrannen mir im Fluge. Das alles war so recht was für mich und es paßte auch vortrefflich zu dem kleinen Stübchen mit seinen dämmerigen Winkeln und zu der Weihnachtsnacht da draußen mit ihren Nebelschleiern und ihrer undurchdringlichen Finsternis.

* * *

Am Morgen des zweiten Festtages waren die Mädchen schon früh wach. Sie wollten zur Kirche, nach dem Dorfe, wohin W. eingepfarrt war. Schon frühzeitig machten sie sich auf, denn das Kirchdorf lag anderthalb Stunden weit entfernt. Während ihrer Abwesenheit konnte ich mir wieder von Gretes Vater Geschichten erzählen lassen. Bevor die Mädchen gingen, war abgemacht worden, daß sie möglichst frühzeitig zurückkehren sollten, damit wir uns rechtzeitig auf den Heimweg begeben konnten und nicht wieder im Dunkeln zu gehen brauchten, wie am Abend zuvor.

Grete und Anna, die wohl hier und da zu lange geschwatzt hatten, blieben jedoch länger aus, als vereinbart worden war. So kam es denn, daß wiederum die Nacht mit ihrer unheimlichen Stille und ihrer nebelgrauen Dämmerung hereinzubrechen begann, als wir endlich so weit waren, uns von Gretes Eltern verabschiedet hatten und nun zum Dorfe hinauswanderten.

Wir eilten, so rasch wie wir konnten, vorwärts und wählten diesmal den neuen Weg. An beiden Seiten waren Gräben ausgeworfen und Birken angepflanzt, so daß wir gar nicht irre gehen konnten. Nach etwa dreiviertel Stunden hatten wir die heimische Feldmarksgrenze erreicht, und die dunkle, einsame Heide lag hinter uns. Es waren nun wohl noch zwanzig bis dreißig Minuten bis zu unserem Dorfe. Bevor wir jedoch zu den ersten Häusern gelangten, die vor dem Dorfe am Felde lagen, ging es noch durch eine sumpfige Niederung, die im Volksmunde „Bösen-Reit" genannt wurde.

Meine Begleiterinnen, die bislang munter geplaudert hatten, wurden jetzt still. So schritten wir denn ziemlich einsilbig auf dem Pfade neben dem Fahrweg dahin. Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet und es war nicht mehr so dunkel, wie es zuvor gewesen war.

Durch die „Bösen-Reit" zog sich ein schmaler Wasserlauf, der den Damm, worauf wir einhergingen, kreuzte. In der Mitte des Dammes, soweit der Fahrweg ging, war der Wasserlauf mit einem Siel aus großen Feldsteinen oder Findlingen überbrückt, wie in unserer Gegend häufig geschieht. Links und rechts vom Siel, etwa zwei Schritt auf jeder Seite, ging der Wasserlauf dann offen durch den Weg.

Diesem Siel in der „Bösen-Reit" hatten wir uns bis auf etwa fünf Schritt genähert, da sahen wir plötzlich – und wir drei sahen es gleichzeitig – etwas Dunkles, Schwarzes links vom Siel, hart am Fußwege und vor dem offenen Ende des Wasserlaufes im Damme. Mir war es, als ob eine plumpe, unförmliche Gestalt dort am Boden läge, die sich mit dem vorderen Teile aufrichtete und uns anstarrte. Deutlich meinte ich ein Paar unheimlich glimmender Augen zu sehen . . . Wir drei stutzten, drängten uns, aufs höchste erschrocken, fest aneinander – und niemand sagte ein Wort. Das dauerte aber nur vielleicht zwei oder drei Sekunden – dann bogen wir aus und waren wie im Wirbel auf der gegenüberliegenden Seite des Weges, sprangen über den Wasserlauf, der sich rechts vom Siel durch den Weg zog, und rannten in wilder Flucht davon. Erst nach längerem Lauf hielten wir an und schöpften Atem. Lautlos und hastig eilten wir dann weiter und fühlten uns erst vollkommen sicher, als wir das Dorf und unsere heimischen Wohnstätten erreicht hatten. – – –

In späteren Jahren habe ich oft über die seltsame Erscheinung in der „Bösen-Reit" nachgedacht, die mit ihren Nebenumständen meiner Erinnerung so fest eingeprägt ist, wie selten ein anderes Erlebnis. Ich habe versucht, mir die Sache dadurch zu erklären, daß ich annahm, ein betrunkener Mann habe dort in jener Nacht am Wege gelegen, der sich halb aufrichtete, als er Menschen kommen hörte, und der sich dann still verhielt, um den Nahenden nicht zu verraten, wer er sei. Allerdings habe ich auch hier und da wohl einmal jemand getroffen, der in der „Bösen-Reit" nächtlicherweise etwas Ähnliches und Unheimliches gesehen haben wollte, was er sich nicht zu erklären vermochte . . .

Meine beiden Gefährtinnen von jenem Abend ruhen längst in kühler Erde; doch in der Zeit, wenn wieder einmal die November- und Dezembernebel sich auf die Heide legen und die langen Nächte uns mit ihrer Finsternis – aber auch mit einer geheimnisvollen Poesie umhüllen, muß ich noch oft der fröhlichen Weihnachtswanderung nach W. und des tollen Spuks in der „Bösen-Reit" gedenken. Und in jenen grauen Tagen zur Zeit der Wintersonnenwende wird es mir dann verständlich und klar, warum unsere alten heidnischen Vorfahren die „Umkehr des feurigen Sonnenrades" mit Jubel und Glanz und Licht und Feuer fröhlich feierten und warum sie sich die Zwölfnächte mit dem grimmig die Luft durchrasenden Wuotan und anderem unheimlichen Spuk erfüllt dachten.

(Nachdruck nach der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Niedersachsen", 20. Jg. 1914/15, 15. Dezember 1914, S. 91-94. Die Anmerkungen in eckigen Klammern wurden aus dem Abdruck in Friedrich Freudenthals Prosaband „Zwei gute Kameraden und andere Heidegeschichten", Bremen o. J., S. 211-228 übernommen.)