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Datum: 01.12.2023

Archivalie des Monats Dezember 2023: Bad Fallingbostels Buchhandlung schließt nach 80 Jahren - Arno und Alice Schmidt als Kunden

Am 15. Mai 1943 eröffnete Bertel Eggers eine Buchhandlung, die 1964 von den Geschwistern Raufeisen übernommen und zuletzt von der Soltauer Buchhändlerin Sigrid Schütte betrieben wurde. Mitte Dezember wird dieses Geschäft nun geschlossen. Bad Fallingbostel verliert damit seine Buchhandlung.

Bild vergrößern: Anzeige von Bertel Eggers "Kunst- und Bücherstube" in einer Broschüre des Verkehrsvereins Fallingbostel
Anzeige von Bertel Eggers "Kunst- und Bücherstube" in einer Broschüre des Verkehrsvereins Fallingbostel

Über die Anfänge der „Kunst- und Bücherstube Bertel Eggers“, die ihr Domizil zunächst im Panningschen Haus Scharnhorststraße 7 hatte, berichtete die „Walsroder Zeitung“ am 15. Mai 1968. Demnach mussten 1943 zunächst die Bedenken des Fachverbandes gegen die Gründung einer Buchhandlung in einem Ort von der Größe Fallingbostel ausgeräumt werden. Dennoch soll es nicht wenige Fallingbosteler gegeben haben, die dem jungen Unternehmen kaum mehr als ein Jahr Lebensdauer zubilligten. Doch Bertel Eggers bewies das nötige unternehmerische Geschick, um die „Kunst- und Bücherstube“ durch schwierige Zeitläufte zu manövrieren. Zu diesem Erfolg trug sicherlich auch bei, dass in den ersten Jahren des Bestehens, als es kaum kulturelle Veranstaltungen gab, regelmäßig Dichterlesungen, Vortragsabende und Buchausstellungen veranstaltet wurden. Kunden konnten so gewonnen und an die „Kunst- und Bücherstube“ gebunden werden.

Vermutlich zählte auch das auf dem Cordinger Mühlenhof lebende Ehepaar Arno und Alice Schmidt dazu. Arno Schmidt (1914-1979) war aus britischer Kriegsgefangenschaft Ende Dezember 1945 hierher entlassen worden, um als Dolmetscher an der britischen Hilfspolizeischule in Benefeld zu arbeiten. Nach langen Jahren der Trennung von seiner Frau Alice (1916-1983), die während des Krieges in der Greifenberger Wohnung des Paares geblieben war, lebten beide nun wieder zusammen. Nach der Schließung der Hilfspolizeischule im November 1946 hätte Arno Schmidt zwar beim Kreisposten der Polizei in Fallingbostel weiter arbeiten können, doch er lehnte dies Angebot ab, um seine Arbeit an einer zehnstelligen Logarithmentafel fortführen, die Materialsammlung über den romantischen Dichter Friedrich de la Motte-Fouqué (1777-1843) voranbringen und mit dem Schreiben von Erzählungen beginnen zu können, die den Grundstein für seine Entwicklung zu einem der wichtigsten und wortmächtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit legten. All das war mangels eines regulären Einkommens nur unter großen persönlichen Einschränkungen möglich.

Bild vergrößern: Materialien zum Leben von Arno und Alice Schmidt trug das Forum Bomlitz schon vor zwei Jahrzehnten in aufschlussreichen Broschüren zusammen
Materialien zum Leben von Arno und Alice Schmidt trug das Forum Bomlitz schon vor zwei Jahrzehnten in aufschlussreichen Broschüren zusammen

Einen Eindruck von den ärmlichen Lebensbedingungen liefern zwei Eintragungen in dem Tagebuch, das von Alice Schmidt geführt wurde. Am Sonntag, dem 9. Januar 1949, trug sie ein: „A. vollendet unser neues Bild, und siehe es war sehr gut, trotzdem die Items dazu wie folgt beschafft waren: Das Kunstdruckblatt kaufte ich vor ca. 2 ½ Jahren, & noch 2 andere, in Fallingbostel [höchstwahrscheinlich in der Kunst- und Bücherstube Bertel Eggers; W.B.], Glasplatte vom gep. Nachttisch abmontiert, Rückwand-Pappe vom Care-Karton, Blendenpapier: vom Butten geschenkte Eibiapläne, Drahtseil einst an der Hauswand baumelnd, abmontiert, Nägel vom Wäscheboden gezogen, Drahtecken vom Handgriff einer Konservenbüchse, die A. als PoW in Luthe in einem Zelt fand (die auch uns noch lange diente, bis sie durchrostete. Klebestreifen v. Schwiegermutter aus Qu. – Wir freuen uns über die Verschönerung.“

Zum besseren Verständnis mögen folgenden Erklärungen dienen:

Items = englisch für „Element“, „Bestandteil“.

Care-Karton = CARE-Pakete („Cooperative for American Remittances to Europe“) sind Nahrungsmittelpakete, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen von amerikanischen Hilfsprogrammen nach Europa geschickt wurden. In ihrer Cordinger Zeit waren die Schmidts sehr auf die CARE-Pakete angewiesen, die sie von Arnos Schwester Lucie erhielten. Sie hatte den jüdischen Textilkaufmann Rudi Kiesler geheiratet und war mit ihm 1933 zunächst nach Prag und 1939 dann in die USA emigriert.

But, Butt, Butte = von den Schmidts als Bezeichnung für den Fleischer und seine Familie verwendet, mit denen sie Lebensmittel aus den CARE-Pakten tauschten. Möglicherweise war damit Hans Sansen (1918-1979) gemeint.

Eibia = Chemie- und Rüstungsunternehmen in Bomlitz, gegründet als Tochterunternehmen der Firma Wolff & Co.

PoW = Prisoner of War (Kriegsgefangener).

Qu. = Quedlinburg, wo Arno Schmidts Mutter lebte.

Für die Annahme, die insgesamt drei Kunstdruckblätter seien bei Bertel Eggers erworben worden, spricht die doppelte Ausrichtung als „Kunst- und Bücherstube“, wobei im Geschäftsnamen die Kunst noch vor den Büchern rangiert. Hier dürfte die einzige Gelegenheit gewesen sein, solche Reproduktionen in Fallingbostel zu erwerben. Zweieinhalb Jahre vor dieser Eintragung, also Mitte 1946, war den Schmidts ein solcher Kauf durch die Beschäftigung an der Hilfspolizeischule in Benefeld, wo auch Alice eine Anstellung gefunden hatte, noch möglich. Im Januar 1949 lagen diese finanziell abgesicherten Zeiten aber weit zurück. Das belegt eindrucksvoll die Aufzählung der sonst noch für die Herstellung der verwendeten Materialien, bei denen nach drei Jahren Restbestandteile einer durchgerosteten Konservendose noch einem neuen Nutzungszweck zugeführt werden.

Bild vergrößern: Die Broschüren des Forum Bomlitz enthalten auch interessante Erinnerungen von Nachbarn und Zeitzeugen
Die Broschüren des Forum Bomlitz enthalten auch interessante Erinnerungen von Nachbarn und Zeitzeugen

Selbst der Weg nach Fallingbostel, wo die CARE-Pakete abgeholt werden mussten, konnte eine Herausforderung darstellen. Am Dienstag, dem 14. Dezember 1948, verzeichnete Alice Schmidt in ihrem Tagebuch: „Um 13h gießt es, um 13,30, unserer äußerten Abmarschzeit für Fallingbostel, hat’s eben aufgehört & wir wandern los. Nichts besonderes unterwegs als viele Bauhundel. Um ¼ 5 mit wehen Füßen endlich daheim. Füßel gleich in kaltes Wasser gesteckt & Messungen über die Erwärmung von etwa 5 l +8° kalten Leitungswassers durch unsere vereinten 4 Füßel angestellt: In 5 min um 4 ¼° erwärmt.“

Aber kehren wir zur eigentlichen Geschichte der Buchhandlung zurück. Auf die kulturellen Aktivitäten war bereits hingewiesen worden. Daneben wurde auch dem guten Jugendbuch Aufmerksamkeit gewidmet. In enger Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft wurde es durch Jugendbuchausstellungen und ähnliche Veranstaltungen den Kindern und ihren Eltern nahegebracht. Stolz präsentierte sich Bertel Eggers „Kunst- und Bücherstube“ als „Die einzige Buchhandlung am Platze“, die auch eine Leihbücherei betrieb.

Der Erwerb eines Grundstücks in der Walsroder Straße 2 ermöglichte Bertel Eggers 1952 die Verlegung seines Geschäfts unmittelbar an die wichtigste Durchgangsstraße. Als seit Mitte der 1950er Jahre der Kneippkurbetriebe zu einem spürbaren Anstieg der Übernachtungszahlen führte, konnte die Buchhandlung davon profitieren – und sei es auch nur durch den Verkauf von Postkarten.

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Anzeige in einer Broschüre des Verkehrsvereins Fallingbostel

Allerdings konnte Bertel Eggers nicht mehr beanspruchen, die einzige Buchhandlung zu sein, denn auch Erna Wittenberg betrieb eine Buchhandlung, in der auch Papierwaren sowie Büro- und Schulbedarf gehandelt wurden. Das Geschäft in der Vogteistraße 2 bestand bis in die 1960er Jahre hinein. Dann ging Erna Wittenberg in Rente.

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Kleinanzeige im "Heimat- und Adreßbuch Landkreis Fallingbostel 1960"

Bertel Eggers „Kunst- und Bücherstube“ wurde am 1. April 1964 von den beiden Schwestern Raufeisen übernommen. Sie stammten aus Ostpreußen, lebten sich aber schnell in der Heide ein. Durch Tätigkeiten in einer Großstadtbuchhandlung in Dortmund beziehungsweise Volksbibliothek brachten sie das nötige Fachwissen mit, um die Kundschaft kompetent und freundlich beraten zu können. Über Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt waren sie stets gut informiert. Annelie Raufeisens Motto war: „Erst wenn man in diesem Beruf viel liest, kann man auch beraten“.

Die „Walsroder Zeitung“ begrüßte es in ihrem Artikel am 15. Mai 1968, „daß der schon lange bestehende Plan, die Bundesstraße zu verbreitern, Wirklichkeit zu werden scheint, so daß das vordere Gebäude abgerissen werden kann und die Geschäftsräume in das neue, bereits 1956 gebaute, dahinterliegende Haus verlegt werden können. Dadurch würde das Geschäft auch äußerlich den Rahmen erhalten, den man heute von einer modernen Buchhandlung erwartet.“

Bild vergrößern: Logo der Buchhandlung Raufeisen in den 1990er Jahren
Logo der Buchhandlung Raufeisen in den 1990er Jahren

Zum 1. April 1974 übernahm Annelie Raufeisen, die jetzt ohne ihre Schwester allein Inhaberin war, zusätzlich zu ihrer Buchhandlung das Papier- und Schreibwarengeschäft, das das Ehepaar Heinz und Wilhelmine Schumacher 25 Jahre lang mitsamt Toto- und Lottoannahmestelle betrieben hatte, jetzt aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Zunächst hatten Schumachers ihr Geschäft im Beermannschen Haus Walsroder Straße 4 betrieben, waren aber nach dem Bau des „Hotels Karpinski“ (heute „Stadthotel“) in die dabei errichtete Ladenfront umgezogen, die die zum Kirchplatz hin lag. So wurde der Kirchplatz 1 nun auch zum Domizil der Buchhandlung Raufeisen. Als dann Ende der 1980er Jahre der Komplex der „Stadthäuser“ in der Vogteistraße entstand, wurden in der Vogteistraße 10 neue Geschäftsräume bezogen.

Aber auch für Annelie Raufeisen kam die Zeit, in der sie aus Altersgründen die Buchhandlung nicht mehr weiterbetreiben wollte. Mit dem Jahreswechsel 2004/2005 übernahm Sigrid Schütte das Geschäft, das im Mai 2005 in der Vogteistraße 12 größere und moderner eingerichtete Räumlichkeiten bezog. Die Familie Schütte konnte in Soltau zu diesem Zeitpunkt schon auf eine mehr als 150-jährige Buchhandelstradition zurückblicken. In Bad Fallingbostel wurde der Traditionsname „Buchhandlung Raufeisen“ beibehalten und ihm lediglich „Inh. Sigrid Schütte“ hinzugefügt.

Bild vergrößern: Die dritte Inhaberin der Buchhandlung nutzte dies Logo
Die dritte Inhaberin der Buchhandlung nutzte dies Logo

Wie Bertel Eggers und Annelie Raufeisen, lag auch Sigrid Schütte die Förderung des Lesens bei Kindern und Jugendlichen besonders am Herzen. Dementsprechend wurde die Kooperation mit den Schulen genauso fortgeführt wie die Förderung der Stadtbücherei und das Sponsoring von Vorlese- und Schreibwettbewerben. Auch für das Kulturprogramm vor Ort engagierte sich die Buchhandlung unter der neuen Besitzerin weiterhin.

Blickt man zurück auf die gemeinsamen Aktivitäten der Buchhandlung Raufeisen mit dem Kulturring Fallingbostel, so wird eine große Bandbreite deutlich: Uschi Krämer bewies, dass Plattdüütsch schön ist und viel mehr Herz zeigt. Der aus den Filmen und Sketchen von Loriot bekannte Nikolaus Schilling entlarvte bei einer Lesung von Eugen Roths heiteren Versen menschliche Schwächen. Ergreifend war die Lesung der „Brautbriefe aus der Gefängniszelle 92“, die Dietrich Bonhoeffer von 1943 bis zu seiner Hinrichtung 1945 an seine Verlobte Maria von Wedemeyer richtete. In eine „Heile Welt“ entführte Walter Kempowski mit seinem gleichnamigen Buch, in dem ein Lehrer auf einem Heidedorf in den 1960er Jahren im Mittelpunkt steht.

Höhepunkt dürfte aber die mehr als vierstündige – und dennoch höchst kurzweilige – Lesung mit Harry Rowohlt im brechend vollen Kursaal gewesen sein. Rowohlt, vielen bekannt als „Penner“ aus der Fernsehserie „Lindenstraße“, als grandioser Übersetzer aus dem Englischen und als Verfasser der Kolumne „Poohs Corner“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“, in der er die „Meinungen eines Bären von sehr geringem Verstand“ aufzeichnete, fesselte sein Publikum. Glück hatte die Kreisstadt, denn der scharfzüngige Harry Rowohlt kam zu dem Schluss: „Gegen Fallingbostel liegt im Grunde nichts vor."

Einen Eindruck von diesem Abend, der allen, die dabei waren, unvergesslich bleiben wird, gibt der Bericht in der „Walsroder Zeitung“ vom 12. Mai 2001: „Der einzig rote Faden ist die Lesung an sich, der Rest ist Rowohlt pur: Er trinkt, erzählt, versinkt noch einen Schluck in seinem Bart, singt auf irisch, dann auf deutsch, schweift immer wieder in seinen Anekdoten ab. Und kommt (fast unerwartet) wieder zum Kern der Sache: zu seiner Übersetzung des Buches ‚Die Asche meiner Mutter‘ von Frank Mc Court, von der nicht wenige behaupten, sie sei besser als das Original. Aber schon hüpft er wieder in eine Kleingeschichte, übersetzt, diesmal hessisch in hamburgisch, springt von einem Dialekt zum anderen (und das quer durch die Republik). Bis ihm dann doch ein Mini-Fehler passiert und der gerade zitierte Pastor etwas zu schrill klingt. ‚Entschuldigung, falsche Stimme.‘ Macht ja nix. Auch die kleinen Rülpser zwischendurch (‚Das ist eben so, wenn man Bier trinkt‘) sind zu verschmerzen. Er kann es ja begründen: ‚Es ist eben der Preis des Ruhms, dass das Aufstoßen auch noch elektronisch verstärkt wird.‘ Aha.“

Die 80-jährige Buchhandelstradition in Bad Fallingbostel findet am 16. Dezember nun ihr Ende. Sigrid Schütte schließt dann aus Altersgründen das Geschäft in der Kreisstadt. Eine Nachfolgelösung konnte bedauerlicherweise nicht gefunden werden