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Archivalie des Monats Mai 2017: „Da kommen die Malers" – Eine Ferienerinnerung an Fallingbostel aus dem Jahr 1899

Im Feuilleton der Zeitschrift „Pädagogische Reform" erschien am 30. August 1899 ein „Fallingbostel" betitelter Beitrag von Dr. Ernst Müller. Der aufschlussreiche Bericht über die Erlebnisse einer zwanzigköpfigen Lehrerinnen- und Lehrergruppe aus dem Raum Hamburg zeigt Fallingbostel weniger als Sommerfrische, sondern als Malerkolonie.

Fallingbostel
Eine Ferienerinnerung von Dr. Ernst Müller

Wo werden Sie die Ferien zubringen?
In Fallingbostel.
Wooo?
In Fallingbostel. Kennen Sie den Ort nicht?
Ich muß gestehen, nein.
Am Rande der Lüneburger Heide, in der Richtung nach Bremen zu, an der Böhme. Es soll eine sehr hübsche, waldige Gegend sein.
So! Na, da wünsche ich viel Vergnügen. Komische Idee, das muß ich sagen. –

Zusammenstellung der in der Zeitschrift "Pädagogische Reform" über mehrere Seiten verteilten "Ferienerinnerung"


Dieses Gespräch wiederholte sich gegen Mitte Juli in verschiedenen Auflagen. Es war eine Gesellschaft von dreißig bis vierzig Kollegen und Kolleginnen, die sich das lieblich gelegene Dorf im Böhmethal als Ferienaufenthalt gewählt hatte. Als es losgehen sollte, klappte noch eine Anzahl ab, und nur gegen zwanzig Männlein und Weiblein trafen schließlich am Bestimmungsorte ein. Wir wünschen all den Abtrünnigen, die sich anderswo mehr Genuß, großartigere Naturschönheiten oder eine angenehmere Reisegesellschaft versprachen, daß ihnen so vergnügliche, so fruchtbare Ferien zu teil geworden sein mögen wie uns. Wir wünschen es, aber wir glauben es nicht.
Denn Fallingbostel war kein gewöhnlicher Ferienaufenthalt mit Spaziergängen im Walde, Ausflügen in die Umgegend, abendlichen Zusammenkünften beim Bier. Alles dies gab es zwar dort auch in reichem Maße, und es gab überdies abends meist sehr gediegene musikalische Genüsse; denn es fanden sich einige vorzügliche musikalische Talente innerhalb der Kolonie, und andere stellte Fallingbostel selbst. Aber das alles würde uns noch nicht berechtigen, vor der Lehrerschaft hier unsre Ferienerinnerungen auszukramen. Nein, Fallingbostel war während dieser Ferien zugleich der Sitz einer Malerkolonie.
Schon einmal, in den letzten Pfingstferien, war das Experiment gemacht worden. Damals hatte sich in Nenndorf, einem Dörfchen südlich von Harburg, eine kleine Anzahl von Hamburger Lehrern und Lehrerinnen zusammengefunden, um malend und zeichnend die Ferien hinzubringen. Was dort im kleinen versucht war zur allgemeinen Zufriedenheit der Beteiligten, das sollte jetzt in größerem Maßstabe ins Werk gesetzt werden.
Es war damit ohne Zweifel eine überaus fruchtbare Anregung gegeben, und Fallingbostel hat bewiesen, daß sich auf diesem Wege sehr schöne Resultate erzielen lassen. Aber wie? Die meisten werden bei dem Worte Malerkolonie sich nicht viel mehr vorstellen können als manche der eleganten Besucher und Besucherinnen aus Bremen oder Hannover, die, vor ihrem Hotel bei Kaffee und Zeitung ihre sogenannte Sommerfrische genießend, tagtäglich den Zug von Skizzenbüchern und Malkasten an sich vorbeidefilieren sahen. Wie sie uns wohl im stillen bemitleideten, das powere Lehrervolk, das zu einem standesgemäßen Ferienleben offenbar kein Geld hatte! Wir aber lachten sie heimlich aus und genossen nur mit um so mehr Behagen das Stückchen Künstlerdasein, das uns vergönnt war.
An fleißiger Arbeit, das dürfen wir getrost behaupten, hat es in Fallingbostel nicht gefehlt, und mancher hat die Wahrheit des Satzes, daß die Arbeit zugleich Erholung sei, mit Freuden empfunden. Es gab einige, die fast täglich vom Morgen bis zum Sonnenuntergang, mit kurzer Unterbrechung während der Mittagsstunden, den Pinsel handhabten, ungestört durch die Hitze, ungestört durch die sich neugierig herandrängenden Mücken und Dorfjungen. Wir hatten bald eine lokale Berühmtheit erlangt. „Da kommen die Malers", flüsterten scheu die Kinder, wenn sich einige von uns zeigten. Oder auch: „Da kommen die Motiver" – diesen Spitznamen sollen uns einige Bremer Kinder angehängt haben, da sie uns, nach malerischen „Motiven" lüstern, am Böhmeufer oder unter den prächtigen Buchen der Lieth" (so heißt der Wald, der hart an Fallingbostel stößt) hatten umherstreichen sehen.

Aber wie köstlich mundete auch diese ungewohnte Art der Arbeit! Das war doch einmal etwas anderes als das träge Hindämmern, das manche Leute Erholung nennen. Man konnte sich kaum losreißen von seiner Thätigkeit, und die Fruchtbarkeit einiger „Kolonisten" ging schier ins Unglaubliche. Es gab einzelne, die, einem on dit zufolge, täglich ihre zwei Ölgemälde fertigbrachten, und andere, die nicht eins, sondern mehrere Skizzenbücher gefüllt nach Hamburg zurückgebracht haben sollen. War es die goldene Freiheit, das köstliche Bewußtsein, der täglichen Plage entrück zu sein, die solches Schaffen bewirkte? War es die schöne Sommerzeit und die herrliche Natur, die uns umgab? War es der Reichtum an interessanten Motiven und der ewig frische Reiz des ungezwungenen Landlebens? Gewiß kam das alles zusammen, aber darin lag nicht die Hauptsache. Es war vor allem die heitere Freundschaftsatmosphäre, in der alles lebte und webte, und zwar um so mehr, je länger das Zusammensein währte. Sie erzeugte eine gegenseitige Anspornung, einen Wetteifer, wie er schöner nicht gedacht werden kann. Man hatte ja auch daheim im Zeichensaal und teilweise auch im Freien gemeinsam gearbeitet, aber wie ganz anders war die Schaffenslust, die einen hier in Fallingbostel überkam! Um nur eins zu erwähnen: gegen das Ende der Ferienzeit entbrannte ein wahrer Feuereifer des Porträtierens. Man porträtierte sich gegenseitig, wo man ging, stand, saß oder lag. Und siehe da – es ging, wenn auch die ersten Versuche mißglückten. Die Hauptsache war, daß man Mut bekam. Mehrere, die sich sonst kaum je daran gewagt hätten, wiesen ganz nette Leistungen auf. Soviel ist sicher, daß Fallingbostel in vier Wochen mehr Fortschritte bewirkt hat, als bei dem gewöhnlichen Gang innerhalb eines halben Jahres erzielt worden wären.
Um gegen den Schluß hin dem Fleiß einen neuen Anstoß zu geben, hatte unser Impressario – ein wegen seines Eifers für die moderne Zeichenmethode rühmlichst bekannter Kollege – den guten Einfall, eine Ausstellung alles dessen, was in den ersten drei Wochen geschaffen worden war, zu veranstalten. Einige Freunde unserer Bestrebungen, auf deren Besuch wir bei dieser Gelegenheit gerechnet hatten, blieben leider aus, dagegen erschien ein sehr tüchtiger junger Hamburger Künstler der modernen Richtung, um sein Urteil abzugeben. Ein unheimlicher Ruf war ihm voraufgegangen. Ein ernster, strenger Mann, allem Frivolen abgeneigt – so hatte man ihn uns geschildert, sodaß mancher und manche ein gelindes Gruseln empfand. Er kam und – erwies sich als der Heiterste unter den Heitern. Gleichwohl hatte es mit dem strengen Ernst seine Richtigkeit, soweit es nämlich die Kunst betraf. Sein Urteil war jedoch bei aller Strenge so sachlich, sein Tadel so lehrreich, sein ganzes Wesen so liebenswürdig, daß alle durch ihn gefördert und ermuntert wurden.

Die Ausstellung dauerte zwei Tage und gab auch den Fallingbostelern Gelegenheit, einen Einblick in das Treiben der „Motiver" zu thun. Näher und näher rückte unterdessen der Augenblick des Scheidens. Um unseren Aufenthalt würdig zu krönen, ward noch ein gemeinsames Werk beschlossen. Etwa 2 km. von Fallingbostel entfernt liegt die Prinz Albrechts-Höhe, die einen schönen Blick über das waldumkränzte Böhmetal und das Dorf gewährt. Hier steht, von Heidekraut und einzelnen Kiefern umwachsen, eine schlichte hölzerne Schutzhütte. Wir beschlossen, ihre Wände zu schmücken, und was anfangs nur ein übermütiger Einfall gewesen war, wurde mit solchem Eifer ausgeführt, daß wir nach gethaner Arbeit mit Stolz auf das vollendete Werk blicken durften, welches unser Andenken in Fallingbostel hoffentlich noch lange festhalten wird, zugleich den Satz predigend, den wir so gern zum Gemeingut aller erhoben sehen möchten:
Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.
Lebe wohl, du frische Waldlandschaft und du schöne, ernste Heide! Lebt wohl, freundliche Landbewohner, die ihr uns gastlich aufgenommen habt! Lebe wohl, Fallingbostel, du liebliches Dorf im Böhmethal! Dein Name bleibt für uns verknüpft mit unvergeßlich schönen Erinnerungen.

Veröffentlicht in: „Pädagogische Reform". Zugleich Organ der „Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung" und der „Hamb. Lehrmittel-Ausstellung", 23. Jahrgang 1899, unpaginierte Beilage zu Nr. 35 vom 30. August 1899.

Schade: Vom künstlerischen Schaffen dieser temporären Malerkolonie ist leider nichts überliefert. Auch die von den Hamburger Lehrern und Lehrerinnen ausgestaltete „Malerhütte" auf der Prinz Albrechtshöhe existiert in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr. Lediglich auf einer Postkarte aus dem Jahr 1913 findet sie sich abgebildet – aber von dem „Wandschmuck", den die „Motiver" zum Abschied in ihr anbrachten, ist auf dieser die Hütte von außen zeigenden Aufnahme natürlich nichts zu sehen.